Missmanagement - Andere Länder überholen uns beim Impfen
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Wenn beispielsweise Israel oder die USA womöglich im März/April kaum noch Corona-Tote zu beklagen haben werden, obwohl es dort keine Lockdowns mehr gibt, wird Deutschland nicht mehr mit emotionalen Appellen weiterkommen, sobald hier noch täglich 590 Menschen sterben, meint Hans-Martin Esser.

19200
Im Herbst 2020 äußerte sich die Kanzlerin dahingehend, dass Deutschland die Bremse ziehen müsse, um ein exponentielles Wachstum zu brechen. Ansonsten würden zum Weihnachtsfest 19200 Fälle von Covid 19 innerhalb eines Tages die Folge.
Diese Aussage auf hundert Fälle genau stammt aus dem späten Herbst und war so warnend wie präzise. Trotz Lockdowns kam es fast noch schlimmer. Merkel erwähnte im Bundestag in ihrer „emotionalsten Rede“, mehr als 500 Tote täglich seien nicht hinnehmbar. Da hat sie recht.
Missmanagement
Corona ist in der Tat keine leichte Angelegenheit. Was sich aber bereits im Sommer abgezeichnet hatte, war, dass Biontech das Rennen machen würde. Fahrlässig war es, dass die Kanzlerin, emotionale Rede hin oder her, bei der Beschaffung des Impfstoffs weitgehend passiv war. Man setzte selbst im Herbst, als die Kanzlerin die Neuansteckungen zu Weihnachten in der Lage war zu nennen, paradoxerweise dennoch immer zu wenig auf die Mainzer Firma.
So kommt es nun, dass die USA, Großbritannien und Israel, allesamt Länder, die nie einen Hehl aus der Vertretung eigener Interessen gemacht hatten, aller Voraussicht nach, Monate vor Deutschland den Ausnahmezustand verlassen werden.
Kennzahlen
Im Jahr 2019 schrieb ich ein Buch zur Normalität („Die große Klammer“, Kulturverlag Kadmos). Hierin beschrieb ich die fortschreitende Wichtigkeit von Statistik für Kultur, Gesellschaft und Politik.
Das Jahr 2020 war ein dezidiert statistisches. Letalitätsrate, Inzidenz (in meinem Buch schon genannt), exponentielles Wachstum, Reproduktionsrate sind Wörter des Jahres, wie auch die neue Normalität. All dies sind Kennzahlen, die Entscheidungen über Lockdown oder Nicht-Lockdown beeinflussten.
Ich schlage eine neue Kennzahl vor, die Länder übergreifend eine Benchmark ist. Wie viele Menschen sterben noch in einem Land, während in einem anderen die Todeszahlen Corona betreffend gen Null tendieren aufgrund Durchimpfung der Bevölkerung. Das ist die Kennzahl.
Merkel beim Wort nehmen
Man mag das makaber nennen. Aber diese Kennziffer vergleicht, wie wir das seit Beginn der Pandemie kennen, die Maßnahmen. Schweden wurde kritisch beäugt, Italien bedauert aufgrund der Pandemie-Toten. Wenn die Kanzlerin Anfang Dezember dezidiert sagte, 590 Tote seien ein zu hoher Preis, muss sie sich gefallen lassen, wenn genauer nachgezählt wird, wie viele Tote Deutschland zu beklagen hat, weil die Impfstoff-Verteilung aufgrund politischen und auch behördlichen Missmanagements im Land, in dem der Impfstoff entwickelt und produziert wird, so mangelhaft funktioniert.
Emotional
Als hätten fast alle Publizisten voneinander abgeschrieben, wird die Bundestagsrede der Kanzlerin im Dezember als „emotionaler Appell“ gesehen. Man google mal diese zwei Worte und sehe, dass FAZ, Süddeutsche, Welt, Stuttgarter Zeitung und viele andere uniform diese Begriffe als Headline am 9.12.2020 nutzten, mit weitgehend unkritischem Ton. Ich selbst werde misstrauisch, wenn das Wort Emotion fällt. Mich beschleicht der Verdacht, dass mir dann etwas verkauft werden soll. Im Zusammenhang mit den 590 Toten taucht also der emotionale Appell auf.
Berlins Regierender Bürgermeister Müller äußerte sich dahingehend, wie viele Menschenleben uns das Christmas-Shopping wert sei. Auch war es die Kanzlerin, die vom Weihnachtsfest mit den Großeltern abriet. Man wolle doch nicht schuld sein am Tod seiner Nächsten, insinuiert dies.
Wer so argumentiert, muss es sich gefallen lassen, dass man auch nachschaut, was es mit den Todeszahlen auf sich hat, wenn es um eine zu zurückhaltende Bestellungen des hier produzierten Impfstoffes geht, eine Bestellung, die in Anbetracht von Toten und Lockdownschäden im dreistelligen Milliardenbereich geradezu läppisch ist.
Corona-Impf-Benchmark
Ich plädiere also dafür eine „Corona-Impf-Benchmark“. Diese Zahl misst, anhand des ersten Landes, das es OHNE LOCKDOWN schafft, die Corona-Todeszahlen gegen Null zu fahren, wie weit andere Länder hintan sind, wie viele danach noch an Covid-19 sterben müssen, ohne dass dies nötig wäre, hätte man besser gehandelt.
Meine Hoffnung ist es, dass diese Zahl Regierungen zwingt, schneller und besser zu handeln. Neben dem Versagen bei der Bestellung der Impfdosen besorgt mich nämlich die zu langsame Organisation der Impf-Zentren. Über die ineinandergreifenden Prozesse machen sich nämlich aus Selbsterhalt Logistikunternehmen und Produktionsstätten Gedanken. Sie sind privatwirtschaftlich, und Versagen wird mit der Pleite eines Betriebes bezahlt. Sie haben Benchmarks, indem sie sich an den besten Konkurrenten orientieren. Ansonsten gibt es ja kaum Verbesserung. Eine solche Benchmark erzeugt öffentlichen Druck. Warum sind Gesundheitsminister und -ämter hiervon befreit?
Wenn beispielsweise Israel oder die USA womöglich im März/April kaum noch Corona-Tote zu beklagen haben werden, obwohl es dort keine Lockdowns mehr gibt, wird Deutschland nicht mehr mit emotionalen Appellen weiterkommen, sobald hier noch täglich 590 Menschen sterben. Da wird dann vorgerechnet. Ganz nüchtern, wie dies ja eigentlich auch die Sprache der Kanzlerin ist.