Cem Özdemir – Vom Hinterbänkler zum Landwirtschaftsminister
Er ist der erste Landwirtschaftsminister in Deutschland, der sich als Vegetarier bezeichnet: Cem Özdemir. In der Schule saß er am liebsten in der letzten Reihe, in der Politik lässt er keine Gelegenheit aus, die türkische Politik zu kritisieren. Aus dem zurückhaltenden Jugendlichen von einst ist ein Politiker geworden der eines weiß: Es lohnt sich, aus der Deckung zu gehen. Von Stefan Groß-Lobkowicz.

Seit Jahren zählt er zum Inventar der Grünen – Cem Özdemir, der für seine Landsleute in Schwaben eigentlich die Inkarnation des typisch Deutschen ist, Spätzle inbegriffen. Auf der Theaterkulisse der Öko-Partei steht er manchmal in der Requisite, manchmal aber auch im grellen Strahl des Scheinwerferlichts. Der künftige Landwirtschaftsminister wirkt im 20. „Kinder-Bundestag“ fast wie aus der Zeit gefallen. Gegenüber der Generation „Fridays for Future“ wirkt der Mann, der dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan seit Jahren ein Dorn im Auge ist, wie ein liebenswerter Dinosaurier, der mit seinen 56 Jahren schon zur Opa-Generation zählt.
Der hochgewachsene, schlanke und immer drahtig wirkende Özdemir entstammt der ersten türkischen Migrantengeneration. Erst Anfang der 70er Jahre kam der Vater, der zur tscherkessischen Minderheit gehört und als Bauer leidenschaftlich in der türkischen Provinz Tokat die Scholle pflügte, nach Deutschland. Die Mutter machte als Schneiderin der ersten Gastarbeitergeneration bescheidene Karriere.
Özdemir, der Charismatiker unter den Grünen, der immer mehr Staatsmann als der Rest der Partei war und schon 2017 als Außenminister der geplatzten Jamaika-Koalition gehandelt wurde, liebt es unprätentiös. Der Mann, der eigentlich von Haus aus Sozialpädagoge ist und 1981 zu den Grünen stieß, bekannte, dass er zuerst Follower, erst später Influencer wurde. Der neue Landwirtschaftsminister liebte es als Kind, sich in den Pausen drinnen zu verstecken, um nicht rausgehen zu müssen. Überhaupt hatte der Spitzenpolitiker, der 1994 und später 2013 erneut in den Bundestag einzog und von 2008 bis 2018 Co-Vorsitzender der Grünen war, quasi von der ersten Klasse an praktisch immer in der letzten Reihe gesessen. Nach dem gebürtigen Bad Uracher, der aus einer Kleinstadt am Fuße der schwäbischen Alb stammt, kam zu Schulzeiten eigentlich nur die Wand. „Freiwillig nie nach vorne, nie auffallen“, war damals sein Credo. Und die schönste Stunde im Leben als Schüler bezeichnete er: „In der 1. Klasse nicht sitzen geblieben zu sein und nach einem Jahr Hauptschule auf die Realschule gewechselt zu haben – das haben mir nicht alle zugetraut.“ Auf was er hingegen verzichtet hätte, waren zwei Jahre Flötenunterricht währen der Erzieherschule, „in denen ich erfolgreich Flötenspielen simuliert habe.“
Doch der Mann, der als Europapolitiker einst für den Beitritt der Türkei plädierte und der für den Despoten Erdoğan mittlerweile das röteste Tuch der Bundesrepublik ist, mutierte dann doch. „Mit der Zeit habe ich festgestellt, dass es sich lohnt, die Deckung zu verlassen, wenn man ein klares Ziel vor Augen hat. Sonst wäre ich wohl auch nicht Politiker geworden.“ Das der türkische Schwabe sich nicht die Stimme verbieten lässt – und dies auch nicht vom allgewaltigen Despoten aus Ankara, der Cem in einer Rede im Mai 2014 in Köln als „angeblichen Türken“ bezeichnete, zeigt die Unverbiegsamkeit und Standhaftigkeit des Grünen. Als Demokrat setzte sich Özdemir für türkische Kriegsdienstverweigerer und die alevitische Minderheit ein, forderte eine Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern seitens der türkischen Regierung. Im Jahr 2007 rief der charismatische Grüne mit anderen türkeistämmigen deutschen Politikern die Regierung der Republik Türkei in einer Petition auf, den Artikel 301, der die Beleidigung des türkischen Staates und der Institutionen und Organe des Staates unter Strafe stellt, ersatzlos aus dem türkischen Strafgesetzbuch zu streichen. Seit Jahren kämpft Özdemir unverdrossen und erhobenen Hauptes gegen das korrupte Regime der terroristisch unterfütterten „Adalet ve Kalkınma Partisi“ (AKP). Immer wieder musste er für sein mutiges Vorpreschen Repressalien in Kauf nehmen. Angriffe und Beleidigungen von Anhängern der Erdogan-Partei AKP standen auf der Tagesordnung, Bedrohungen seiner Familie inklusive. Doch auf Bodyguards hatte Cem immer verzichtet.
Persönlich hat Özdemir sein Glück schon lange gefunden. Der Vorzeige-Schwabe mit türkischen Wurzeln lebt seit Jahren an der Seite einer Argentinierin. Mit der aus Buenos Aires stammenden Pia Maria Castro war es Liebe auf den ersten Blick. Mit ihr und den Kindern führe er eine „absolute Multikultifamilie“. „Wenn unsere Eltern zusammentreffen, kommunizieren sie ohne Worte. Cem und ich sind Weltmeister im Simultanübersetzen“, so die Mutter von Tochter Mia und Sohn Vito, die natürlich neben Deutsch auch Spanisch sprechen. „Sie verstehen es auch, wenn Oma und Opa Türkisch mit ihnen reden.“ Sprachvielfalt wird im Haus Özdemir hoch geschrieben. Und Cem hatte immer damit geglänzt, dass sein Deutsch besser als sein Türkisch gewesen sei. „Als ich 1994 in den Bundestag kam, habe ich erst einmal richtig Türkisch gelernt, um mich auch mit türkischen Kollegen oder Journalisten unterhalten zu können. Mittlerweile ist es aber wirklich gut.“ Sich selbst versteht er ja als deutschen „Staatsbürger türkischer Herkunft. Das Schwäbische ist mir noch näher als das Deutsche, und mit der türkischen Herkunft ist es ebenfalls so einfach nicht. Auch ‚Einwanderer‘ […] trifft den Kern nicht. Ich bin zwar gut zu Fuß, aber ich bin nie eingewandert, sondern hier geboren.“
Es war seine Mutter Nihal, die im August 2021 mit 88 Jahren verstorben war, der Özdemir viel zu verdanken hat. Sie sei eine „beeindruckende und mutige Frau“ gewesen. „Wenn ich irgendetwas über Liebe, Menschlichkeit und Bescheidenheit gelernt habe, dann verdanke ich es meinen Eltern und ihrer Überzeugung, dass man Patriot sein kann, ohne Nationalist zu sein“. Und er fügt hinzu: Was und wer er geworden sei, verdanke er „zu einem großen Teil" ihr. Sie habe ihm unter anderem „früh Respekt für unsere christlichen NachbarInnen gelehrt“.
Eigentlich wäre Özdemir der perfekte Außenminister – und vielleicht die bessere Besetzung als Annalena Baerbock. Der leidenschaftliche Fußballfan der VfB-Stuttgart und Mitglied des 2015 gegründeten VfB-Fanclubs für Mitglieder des Bundestags kennt sich versiert an allen Fronten aus: er war Unterzeichner eines veröffentlichten Offenen Briefes an die Staatsoberhäupter und Regierungschefs von NATO und EU gegen die Politik des russischen Präsidenten Waldimir Putin, kritisierte den Bürgerkrieg in Syrien und den russischen Militäreinsatz, forderte eine Verschärfung der EU-Sanktionen gegen Russland und warf Wladimir Putin Skrupellosigkeit vor. Özdemir, der für eine Europäische Armee und gegen den belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko als Marionette des Kremls kämpft, wird nun Landschaftsminister. Einen ersten Kontakt mit Pflanzen hatte der Schwabe schon:
Im August 2014 veröffentlichte Özdemir für die Ice Bucket Challenge ein Video auf YouTube, in dem neben ihm auf einem Balkon eine Hanfpflanze zu sehen war. Damals widersprach der Grünen-Politiker der Vermutung, dass die Pflanze versehentlich ins Bild geraten sei. Vielmehr handele es sich um ein „sanftes, politisches Statement“. Der Forderung seiner Partei, Cannabis zu legalisieren, hatte er stets Rechnung getragen.
Dass Özdemir jetzt ausgerechnet Landwirtschafsminister wird, kann auch als Zeichen des Schicksals gelesen werden und hätte seinen Vater Abdullah, den Bauern, der 2015 gestorben ist, sicherlich gefreut. Als sein Sohn als Teenager Vegetarier wurde, schockierte er damals seine Eltern. „Mein Vater dachte, ich habe den Verstand verloren,“ sagte Özdemir in einem Interview. Obwohl ihm Abdullah verbot, nicht auf Fleisch zu verzichten, blieb der jugendliche Rebell damals ungehorsam. „Für meinen Vater war Fleisch hingegen etwas Besonderes, das man sich hart erarbeiten musste. Dass sein einziger Sohn das nicht mehr essen wollte, hat er nicht akzeptiert“. Özdemir hatte das Essen damals in einer Plastiktüte versteckt und an Katzen verfüttert. Als das aufflog, habe seine Mutter angefangen, Fleisch heimlich ins Essen zu mischen. Als der Sohn unter starken Mangelerscheinungen litt, weil er „nur Beilagen“ aß, hatte er seine Eltern vor die Wahl gestellt: „Entweder ihr habt einen vegetarischen Sohn – oder gar keinen“. Die Eltern lenkten daraufhin ein. Seine Entscheidung, vegan zu leben, begründete der Grüne damit, dass er „Tierfabriken“ schon immer furchtbar gefunden habe. Daher ist es kaum verwunderlich, dass das Tierwohl mittlerweile auf seiner Agenda als neuer Minister ganz oben steht.