Kann Bayreuth als Festival für die „Woke“-Gemeinde bestehen?
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Die Bayreuther Festspiele sind ein Spiegelbild der allgemeinen Polarisierung in der Bundesrepublik. Ein Vergleich mit der CDU drängt sich geradezu auf. Während die Union immer mehr zu einer Partei ohne wirklich Konservative wird, entwickeln sich die Bayreuther Festspiele immer mehr zu einem Festival ohne Wagner-Kenner.Von Bernd Fischer

Die Festspiele Bayreuth haben einen besonderen Stellenwert unter den bedeutenden Musikfestspielen. Zwar gab es bereits festspielähnliche Veranstaltungen in der Antike und auch danach, aber das Konzept der regelmäßigen Aufführungen von Musikwerken während weniger Sommerwochen ist wohl zum ersten Mal in Bayreuth umgesetzt worden. Bedeutende andere Festspiele wie die in Salzburg und Glyndebourne sind erst viel später in Anlehnung an die Bayreuther Urversion entstanden, und sie sind nicht nur den Werken eines einzigen Komponisten gewidmet. Einzigartig werden die Bayreuther Festspiele vor allem dadurch, dass sie von eben jenem Komponisten erdacht und gegründet worden sind, dessen Werke dort aufgeführt werden. Seit ihrer Gründung hatten zudem immer Mitglieder der Familie Wagner die entscheidenden Leitungsfunktionen inne. Für jemanden, der in Bundesrepublik aufgewachsen ist, erschienen die Festspiele wie ein monolithischer Block in der Kulturlandschaft, der einfach unveränderlich „da war“. Niemanden wäre es in den Sinn gekommen, den Fortbestand der Festspiele in Frage zu stellen. Heute jedoch dämmert diese Frage am Horizont auf, um es einmal vorsichtig im Stile Wagners zu formulieren.
Dabei war die Geschichte der Festspiele keineswegs immer frei von Schwierigkeiten. Eine Konstante waren die Finanzierungsprobleme. Auch der Verkauf der Karten war in den Anfangsjahren der Festspiele keine Selbstverständlichkeit. Und so waren von den Jahren 1876 – dem Jahr der Gründung der Festspiele - bis 1944 nur 39 Jahre auch Festspieljahre. In vielen Jahren war es schlichtweg nicht möglich Festspiele zu veranstalten, da dazu die finanziellen Mittel nicht ausreichten. Erst seit 1936 (bis 1944) und dann wieder seit der – ebenfalls keineswegs reibungslosen – Wiederaufnahme des Festspielbetriebs im Jahr 1951 werden die Festspiele (mit Ausnahme des Corona-Jahres 2020) in jedem Sommer abgehalten. Dies sollte man nicht aus dem Auge verlieren, wenn man die Lage der Festspiele im Jahr 2023 analysiert.
Trotzdem sind die Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte für die Freunde der Festspiele – oder sagen wir lieber etwas allgemeiner: die Freunde der musikdramatischen Werke Richard Wagners – beängstigend, denn es ist psychologisch etwas ganz anders, vom Gipfelpunkt herabzusteigen, als ihn mühsam zu erklimmen und sich am Gipfelblick zu erfreuen. Mittlerweile muss man wohl von einer Krise sprechen. Ein solch schwerwiegendes Urteil muss begründet werden. Dazu wird im Folgenden ein Versuch aus unterschiedlichen Perspektiven gemacht.
Kartenpreise bis zum Äußersten ausgereizt
Da wäre zum einen der wirtschaftliche Aspekt. Hier ist zu bedenken, dass es so gut wie keine Opernhäuser und Musikfestspiele gibt, die sich wirtschaftlich selbst tragen, also ohne Subventionen durch die öffentliche Hand auskommen können. Bei einem Betrieb, der sich zu 75-80 Prozent aus Subventionen finanziert – wie es an deutschen Häusern der Fall ist – definieren die Geldgeber individuell, wie sie den wirtschaftlichen Erfolg messen. Häufig zieht man dazu Werte über die Auslastung der Vorführungen heran, denn mit einer guten Quote wird zumindest der Zuschuss weiterer Subventionen über die eingeplanten Beträge hinaus vermieden. Im Falle von Bayreuth haben sich die Messkriterien in den letzten 15 Jahren allerdings erheblich verändert, denn nach dem Rücktritt Wolfgang Wagners im Jahre 2008 wurden durch die Richard-Wagner-Stiftung zahlreiche Veränderungen angestoßen, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Als wesentliche Konsequenz dieser Maßnahmen wurde die Kartenvergabe transparenter gestaltet als zu Wolfgang Wagners Zeiten, zugleich aber das Preisniveau nicht nur angehoben, sondern nach und nach bis zum Äußersten ausgereizt. Die Anzahl der Plätze in günstigeren Kategorien wurde verringert, die beiden Aufführungen, die einstmals Gewerkschaftsmitgliedern vorbehalten waren, wurden gestrichen. Kostete eine Karte für den Parsifal im Jahre 1997 in einer sehr guten Kategorie noch 208 Euro, so musste man im Jahre 2023 bereits 460 Euro für eine solche Karte berappen! Spötter geben als Begründung für diese Verdopplung an, dass man ja heutzutage zwei Vorstellungen gleichzeitig erhält: einmal das Werk Wagners und zum anderen die davon losgelöste Inszenierung des Regisseurs; dem Regietheater sei Dank!
Die Festspielleitung hat vor wenigen Tagen für die drei Ring-Zyklen eine Buchungsquote von 92 Prozent veröffentlicht. Eine Quote von 92 Prozent für das mit Abstand wichtigste „Produkt“ von Festspielen, die noch vor wenigen Jahren immer und mühelos zu annährend 100 Prozent ausgebucht waren, kommt vor allem unter dem Gesichtspunkt der Reputation einem Debakel gleich! Hinzu kommt ja noch, dass die noch verfügbaren Karten über Wochen hinweg in den (sozialen) Medien angepriesen wurden. Ob dies wirtschaftlich verkraftbar ist, müssen die für die Festspiele Verantwortlichen beurteilen; wie bereits ausgeführt: es handelt sich ja nicht um ein normales, profitorientiertes Wirtschaftsunternehmen. Die Festspielleitung scheint diese Entwicklung immer noch als eine Art Ausrutscher zu sehen und verbreitet ansonsten Jubelmeldungen. Die anderen Aufführungen seien ja auch ausverkauft gewesen! Dabei waren allerdings für beinahe alle Vorführungen kurz vor Beginn der Festspiele noch Karten verfügbar. Selbst während der Festspiele konnten noch für die meisten Vorstellungen problemlos Karten erworben werden. Für die Reputation der Festspiele hat dies verheerende Auswirkungen. Denn durch die leichte Verfügbarkeit der Karten wird verstärkt die Frage nach dem Stellenwert der Festspiele aufgeworfen, denn es liegt in der menschlichen Natur, den Wert einer leicht verfügbaren Sache zu hinterfragen.
Ruf ohne Substanz
Lange Zeit - etwa bis zum Ende der Amtszeit Wolfgang Wagners – war es berechtigt, Bayreuth als den führenden Ort für die Präsentation der Werke Richard Wagners ansehen. Die Inszenierungen des Rings von Harry Kupfer (1988-1992) und durch Alfred Kirchner/Rosalie (1994-1998) können noch als herausragend angesehen werden. Obwohl danach nur noch ganz wenige Inszenierungen einen vergleichbaren Status erlangt haben, profitierten die Festspiele noch sehr lange von diesem Ruf, ohne dass dies durch die künstlerische Substanz der Inszenierungen gerechtfertigt wurde. Die schwache Ringinszenierung durch Tankred Dorst (2006-2010) wurde noch vom überragenden Dirigat Christian Thielemanns getragen. Bei der darauffolgenden noch schwächeren Ring-Inszenierung von Frank Castorf (2013-2017) war dies nur noch in den ersten drei Jahren möglich. Da dirigierte nämlich der andere überragende Wagner-Dirigent unserer Zeit, Kirill Petrenko. Als dann Marek Janowski das Dirigat übernahm, kam es zu einem merklichen Bruch, den auch der Verfasser dieser Zeilen schmerzlich erfahren musste. Konnte man bis dahin sicher sein, für nicht benötigte Karten einen dankbaren Abnehmer zu finden, musste man im Jahre 2017 erleben, wie es damit ein jähes Ende nahm. Selbst bei den Wagner-Verbänden ließ sich eine überzählige Karte für den Ring nicht mehr an den Mann bringen. Ein Verband ließ sogar mitteilen, dass er überschwemmt werde mit derartigen Anfragen. 2017 war auch das letzte Jahr, in dem man einen Schwarzmarkthändler vor dem Kassenbereich der Festspiele gesehen hat. Aus Verzweiflung wollte er seine gehorteten Karten sogar verschenken, aber es gab niemanden, der noch Bedarf hatte.
Ambitionierte Besetzungspläne scheitern
Der dritte Aspekt – er wurde schon gestreift, es hängt eben alles mit allem zusammen – betrifft die künstlerische Qualität und den generellen Ansatz der Inszenierungen. Was das Niveau der Sänger anbelangt, kommt es immer einmal wieder zu sehr merkwürdigen Entscheidungen, etwa die Besetzung der Isolde mit Iréne Theorin im Jahr 2022, denn zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihre besten Jahre schon längst hinter sich. Insgesamt ist aber zu konstatieren, dass der Tiefpunkt bei der Besetzung der Rollen, der meines Erachtens in den Jahren 2007-2011 (die Anfangsphase der Ära Katharina Wagner) mit den Meistersingern und dem „Biogasanlagen-Tannhäuser“ in den Inszenierungen von Katharina Wagner bzw. Sebastian Baumgarten zu verorten ist, längst überschritten wurde. Allerdings sind in der Folgezeit auch viele ambitionierte Besetzungspläne gescheitert. Anna Netrebko, die für einige Vorführungen im Lohengrin vorgesehen war, sagte im Jahr 2019 kurzfristig ab, Roberto Alagna (ebenfalls Lohengrin) noch kurzfristiger im Jahr zuvor, in diesem Jahr traten gleich eine Reihe von namhaften Sängern, u.a. Joseph Callejo und Ekatarina Semenchuk von ihren Engagements zurück. Bayreuth verfügt jedoch über ein sehr treues, ausgezeichnetes „Stammpersonal“, zu denen erstklassige Sänger wie Klaus Florian Vogt, Georg Zeppenfeld, Christa Mayer, lange Zeit Stephan Gould, der leider seine Karriere beenden musste, Michael Volle und Andreas Schager zählen. In diesem Jahr sang immerhin Elīna Garanča ihr Debut in Bayreuth! Chor und Orchester bewegen sich nach wie vor auf einem Spitzenniveau. Somit bieten also die Sängerbesetzung und die Qualität der Musiker – trotz der Enttäuschung über die eine oder andere Absage - keine ausreichende Erklärung für die nachlassende Resonanz, auch wenn die Krisenjahre der Reputation erheblichen Schaden zugefügt haben.
Es kann ebenfalls ausgeschlossen werden, die problematischen Bayreuther Absatzzahlen mit einer generellen „Wagnermüdigkeit“ in Verbindung zu bringen, denn davon kann nicht die Rede sein. Versuchen Sie, lieber Leser, nur einmal Karten für den Ring-Zyklus in Wien zu erwerben, wenn Christian Thielemann ihn dirigiert! Auch die Staatsoper Berlin, die Semperoper Dresden müssen wenig Werbung schalten, um ihre Karten abzusetzen. Ähnliches wird sicher demnächst auch für die Mailänder Scala gelten, wenn Thielemann dort den Ring dirigiert. Aber auch viele Häuser in der zweiten Reihe - Frankfurt, Leipzig, Wiesbaden, Düsseldorf- müssen sich über den Kartenabsatz keine Sorgen machen, wenn Wagner auf den Spielplan steht. Natürlich spielen die Qualitätsstandards eine nicht unerhebliche Rolle, aber entscheidender für die Resonanz, die Wagner an diesen kleineren Bühnen hervorruft, ist doch die Vermittlung des Willens, seine Werke angemessen aufzuführen und – vor allem – sie ernst zu nehmen! Dann funktioniert Wagner auch in Minden oder Kassel.
Ach du liebes Regietheater!
Ein wesentlicher Problempunkt ist jedoch die von Katharina Wagner forcierte Ausrichtung auf ein werkfremdes Regietheater. Für die aktuelle Inszenierung des Fliegenden Holländers hat der Regisseur Dmitri Tcherniakov eine ganz neue Handlung entworfen: Am Anfang steht der Selbstmord der (hinzuerfundenen) Mutter des Holländers. Sie wurde ein Mobbing-Opfer, nachdem sie mit Daland eine Affäre gehabt hat. Ihr Sohn wird seitdem von Rachegelüsten getrieben. Mit der mythischen Geschichte, die Wagner ersonnen hat, hat dies natürlich nicht das geringste mehr zu tun. Statt dessen gibt es eben „Tcherniakov“, eine Mischung zwischen Tatort und Besuch der alten Dame. Der Regisseur Valentin Schwarz erfindet den Ring ebenfalls neu. Er unterstellt, dass Wotan und Alberich Brüder sind (was dazu führt, dass auch Mime der Bruder von Wotan ist und dass überhaupt alle mit allen verwandt sind). Das Resultat ist eine öde Familiensaga. Sebastian Baumgarten lässt seinen Tannhäuser als Clown auftreten als Mitglied einer kriminellen Gruppe, die aus einem schwarzen Travestiekünstler (Le Gateau Chocolat), einer Figur, die Oskar Matzerath nachempfunden ist, und einer durchgeknallten Venus besteht. Und so flitzen sie als (frei hinzugedichtete) Outlaws durch das schöne Thüringen bis zur Wartburg bzw. nach Bayreuth, um den Spießern mal so richtig die Maske vom Gesicht zu reißen. Klar kann man das so machen, nur steht es eben völlig verquer zu den Werken Wagners, da die tatsächlich gesprochenen Worte und die Musik, die ja bei Wagner sehr genau die (Wagner’sche) Handlung wiedergibt, in der neuen Handlung in der Regel keinerlei Sinn mehr ergeben. Der Kenner muss also ständig „doppeldenken“.
Die Traditionalisten beklagen, dass die Werke Wagners von diesen Regisseuren im Grunde als irrelevant angesehen werden. Wenn man es als geboten ansieht, alle Binnenstrukturen zu verformen oder sie zu entkernen, um einen völlig neuen Handlungsverlauf einzupflanzen, dann verkomme Wagner zu einer Art von Hintergrundmusik. Der Wagner'sche Mythos werde zu einer Art Episode der Lindenstraße umgeformt. Viele von ihnen – darunter zahlreiche Mitglieder von Wagnergesellschaften - haben den Festspielen schon seit längerem den Rücken gekehrt, da sie diese strapaziöse Form des Regietheaters nicht mehr ertragen wollen. Diese resignierende Haltung gegenüber dem entfesselten Regietheater ist natürlich ein Phänomen, das keineswegs auf Bayreuth beschränkt ist. Andere Beobachter, wie Ioan Holender oder der Dirigent Philippe Jordan haben sich erst kürzlich sehr kritisch geäußert. Daniel Kehlmann hatte bereits in einer Salzburger Rede im Jahre 2009 auf die desaströsen Konsequenzen des Regietheaters hingewiesen.
Man kann auf die weitere Entwicklung in Bayreuth gespannt sein. Wenn die Festspielleitung weiter so agiert, wird Bayreuth wohl bald zu Wagnerfestspielen ohne „Wagnerianer“ werden. Um Wagners Werk wird man sich wohl keine Sorgen machen müssen. Es wird immer irgendwo kompetente Regisseure geben, die das Werk hinreichend berücksichtigen. In der entscheidenden Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth ist die Bundesrepublik Deutschland immerhin mit fünf Stimmen vertreten. Es ist unwahrscheinlich, dass es mit einer Kulturstaatsministerin Claudia Roth zu einer grundsätzlichen Änderung des Kurses kommen wird. Sollte man wider Erwarten doch eine andere Strategie wünschen – etwa eine Abkehr vom werkfremden Regietheater – wird dies wohl kaum mit Katharina Wagner zu erzielen sein. Zu sehr hat sie betont, dass sie das Heil der Festspiele in diesem Ansatz sieht. Auch war ihr Führungsansatz in der Vergangenheit viel zu erratisch. Immer wieder wurde ein neues Kaninchen aus dem Ärmel gezogen. Einmal waren es Dirigenten und Regisseure, die über eine geringe oder gar keine Erfahrung mit den Werken Wagners hatten. (Ausweislich seiner Homepage hatte der heute 34-jährige Regisseur Valentin Schwarz noch nie zuvor eine Wagner-Oper inszeniert.) Kein einziger Regisseur wurde in ihrer Amtszeit für eine zweite Inszenierung verpflichtet (Ausnahme: Katharina Wagner), wichtige Dirigenten wie Kirill Petrenko und jetzt wohl auch Christian Thielemann wurden vergrätzt. Jetzt soll im Jahre 2026 mit der Aufnahme Wagners dritter Oper „Rienzi, der letzte der Tribunen“ in den Kanon der aufgeführten Werke ein weiteres Kaninchen folgen. Ob es gelingen wird, dieses noch sehr in Tradition der französischen Grand Opéra verwurzelte Jugendwerk hinreichend aufzuhübschen, um es in Bayreuth zu etablieren, kann bezweifelt werden. Gelegentlich wird es unter massiven Strichen mit begrenztem Erfolg an anderen Bühnen gezeigt. Auch ein erster Testballon im Jahre 2013 in der Bayreuther Oberfrankenhalle abseits der offiziellen Festspiele war von mäßigem Erfolg begleitet, obwohl Christian Thielemann dirigierte. Übrigens war es Thielemann, der oftmals betont hat, dass der Rienzi und die beiden anderen frühen Werke sich nicht für die komplexe Akustik im Festspielhaus eignen. Aber auch dieser Weise hat in Bayreuth scheinbar nicht mehr viel zu melden.
Unversöhnliche Fan-Lager
Die Lager – pro werkfremdes Regietheater und contra – stehen sich erbittert gegenüber. Bei der geringfügigsten Kritik am fehlgeleiteten Regietheater wird einem von den Befürwortern unterstellt, wohl wieder zu den Bärenfellen aus der Inszenierung von 1876 zurückkehren zu wollen. Ein sinnvoller Diskurs ist eigentlich nicht mehr möglich, denn dafür benötigte man gewisse allgemein akzeptierte Maßstäbe. Eine Frage wie „Was ist werktreu?“ ist nicht mehr in sinnvoller Weise verhandelbar. Und so wird der individuelle Standpunkt mal wieder zu einer Frage der Haltung. Insofern ist die Bayreuther Situation ein Spiegelbild der allgemeinen Polarisierung in der Bundesrepublik. Ein Vergleich der Festspiele mit der CDU drängt sich geradezu auf. Während die CDU immer mehr zu einer Partei ohne wirklich Konservative wird, entwickeln sich die Bayreuther Festspiele immer mehr zu einem Festival ohne Wagner-Kenner. Beide zielen in gewisser Weise derzeit auf das „links-woke“ Spektrum. Kann aber Bayreuth als ein Festival für die woke Gemeinde, oder sagen wir: für Besucher, denen die „Event-Erfahrung“ wichtiger ist als eine tiefergehende Beschäftigung mit dem Werk Wagners, bestehen? Das wird die spannende Frage der nächsten Jahre sein.
Eigentlich wollten Wolfgang und Wieland ja beim Neustart der Festspiele nach dem Krieg die Politik aus dem Spiel halten: „Hier gilt’s der Kunst!“ wurde als Motto ausgegeben. Unversehens haben die Festspiele doch wieder eine politische Ausrichtung erhalten. Scheinbar gibt es für sie in dieser Hinsicht keine Erlösung, Wagner kann in Bayreuth nicht einfach nur Wagner sein. Angesichts der unterschiedlichen Positionen zwischen den Lagern scheint eine Kompromisslösung fast unerreichbar. Strebte man sie ernsthaft an, dann würde es helfen, Katharina Wagner an der Spitze der Festspiele abzulösen. Da sich die Festspiele sehr von seiner ursprünglichen, Gemeinde-bildenden Form entfernt haben, kann man es heute als verzichtbar ansehen, ein Mitglied der Wagner-Familie an die Spitze zu setzen, zumal es auch keine geeigneten Kandidaten gäbe. Ein völliger Neustart könnte als Vertrauensvotum für das Werk Wagners angesehen werden.