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Gesellschaft & Kultur > Anti-Corona-Politik ohne Strategie

Wie Deutschland an Corona scheitert

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Aktionismus ohne Strategie: Bund und Länder haben anfänglich gute Erfolge im Kampf gegen die Pandemie erzielt. In der zweiten Welle aber wurden massive Fehler gemacht. Jetzt ist ein neuer Ansatz nötig

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) neben Markus Söder (CSU) und Michael Müller (SPD, nach der Bund-Länder-Konferenz zu Corona am Dienstag. Foto: Picture Alliance, dpa/Michael Kappeler
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) neben Markus Söder (CSU) und Michael Müller (SPD, nach der Bund-Länder-Konferenz zu Corona am Dienstag. Foto: Picture Alliance, dpa/Michael Kappeler

Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr vieles richtig gemacht im Umgang mit einer neuartigen Gefahr. Darum stand Deutschland im Herbst vor dem Start der zweiten Corona-Welle im internationalen Vergleich ausgesprochen gut da. Die Zahl der Corona-Toten war relativ niedrig, die Auslastung der Krankenhäuser immer noch zu bewältigen. Im September etwa starben 186 Menschen an oder mit Corona, im gesamten Monat kam es zu 44.800 Neuinfektionen.

Doch zur Zwischenbilanz nach dem ersten pandemischen Jahr gehört auch das Testat, das sich die Bundesregierung inzwischen schlimme Fehler vorwerfen lassen muss. Die Zahlen der Infektionen und der Opfer sind nach oben geschossen. Allein im Dezember gab es 17.000 zusätzliche Tote und 675.000 neue Infektionen. Und im Januar stehen zwar mustergültige Impfzentren in vielen Städten und Kommunen zur Verfügung. Doch es fehlt am Impfstoff.

Die Politik hörte gern das Lob und wischt jetzt die Kritik weg

In Berlin wurde das Lob für den erfolgreichen Umgang mit Corona gern angenommen. Die derzeit wachsende Kritik versucht die Regierung hingegen wegzuwischen. Eine Variante probten Bundesfinanzminister Olaf Scholz und die mitregierende SPD dieser Tage, als sie die Schuld an den bislang bedrückend geringen Vaccine-Mengen einseitig der Union und Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) anzulasten versuchten. Das aber ist wenig glaubwürdig in einer Koalition, die bislang stets ihre gleichmäßig verteilte Verantwortung am Kampf gegen die Pandemie betonte.

Es sind verschiedene taktische und ein alles überwölbender systemischer Fehler, die der Bundesregierung anzulasten sind. In Teilen ereigneten sich diese Pannen übrigens schon während der ersten Welle, auch wenn sich ihre Folgen erst später und zum Teil in der Zukunft zeigten und zeigen werden. Der erste taktische Fehler bestand in der anfänglichen Unterschätzung des Virus. Da wurden Fluglinien etwa nach China zu spät unterbrochen und einfliegende Passagiere viel zu selten auf Krankheitssymptome kontrolliert. Während US-Präsident Donald Trump zumindest im Hintergrund bereits am 7. Februar warnte, Covid-19 sei „tödliches Zeug“ und „viel gefährlicher“ als etwa die Grippe, und sein französischer Amtskollege Emmanuel Macron wenige Wochen später erklärte, man befinde sich „im Krieg“ gegen den neuartigen Virus, bezeichneten Kanzlerin Angela Merkel und Spahn noch im März das Tragen von Masken als unnötig oder gar gefährlich.

Tatsächlich hatte die Regierung schlicht verschlafen, Masken für die Bevölkerung in genügender Zahl anzuschaffen oder herzustellen und war nicht einmal aufgewacht, als Peking die entsprechenden Vorräte Europas Anfang des Jahres großmengig aufkaufte. Dabei hätte die Politik seit Jahren gewarnt sein müssen – denn schon 2012 spielte eine Risikoanalyse des Robert-Koch-Instituts unter Mitwirkung etlicher Bundesbehörden und samt umfassenden Debatten im Bundestag das Szenario der pandemischen Verbreitung eines mutierten SARS-Erregers durch. Die Parallelen waren bedrückend, bis hin zur Prognose, dass Kinder den Virus zumeist locker wegstecken, während unter alten Erkrankten bis zu 50 Prozent sterben.

Eine wichtige Diskussion unterblieb

Zu den frühen Fehlern gehört auch der Verzicht auf jegliche Diskussion, ob der Gesellschaft eine vorübergehende Einschränkung des Datenschutzes zuzumuten sei, wenn man im Gegenzug einen wirkungsvolleren Antiviren-Schutz bekommen würde. Deshalb beklatschte man sich Mitte Juni beim Stapellauf der Corona-Warn-App, die bestenfalls darüber informiert, dass man irgendwann irgendwo irgendeiner infizierten, aber ansonsten gänzlich anonymen Person begegnet ist – falls besagte Person auf freiwilliger Basis einen positiven Test in ihre App eingespeist hat. Dabei hatten die asiatischen Staaten, darunter nicht nur das autoritäre China, sondern auch Demokratien wie Südkorea und Taiwan, deutlich gemacht, dass mit anspruchsvolleren Apps die Nachverfolgung von Kontakten oder das Einloggen von negativ getesteten Menschen beim Besuch von Clubs, Restaurants oder Konzerten ausgesprochen effizient läuft. In Deutschland hingegen wurden Zettel in gastronomischen Betrieben ausgeteilt, in denen sich dann die Kunden entweder mit falscher Telefonnummer oder als „Mickey Mouse“ und „Harry Potter“ eintrugen. Das Nachverfolgen derartiger Angaben legte über Monate die Gesundheitsämter lahm. Von der deutschen Corona-Warn-App ist übrigens seit Wochen keine Rede mehr. Sie darf als 20 Millionen Euro teure Fehlinvestition angesehen werden.

Eine weitere Panne bestand im Wegdelegieren der Bestellung der höchst wichtigen Vaccine an die europäische Ebene. Es ist bezeichnend für die mangelnde Reife der Debatte, dass man diese Kritik als „Impfnationalismus“ zu denunzieren versucht. Dabei weiß jeder Katastrophenmanager, dass Krisen Chefsache sind, und natürlich sitzt (man muss hierzu nicht die Maastricht-Urteile aus Karlsruhe zitieren) die Chefetage Deutschlands weiterhin in Berlin, nicht in Brüssel. Schon die pure Logik lässt erkennen, dass eine Bestellung, deren eventuelle Korrektur oder Ausweitung und schließlich die Nachverfolgung der Anlieferung komplizierter wird, wenn mehrere Ebenen involviert sind. Und das Argument, bei einem dezentralen Vorgehen von einzelnen Staaten oder von „Impfallianzen“, wie sie sich zunächst zwischen Deutschland, Frankreich, Italien und den Niederlanden gebildet hatten, wären kleinere Länder möglicherweise nicht zum Zuge gekommen, ist schlicht falsch: Die Vorstände der beiden großen Vaccine-Hersteller Biontech und Moderna haben zu Protokoll gegeben, sie hätten der EU mehr liefern können als bestellt worden ist.

Wo ist der "Flaschenhals" bei der Versorgung mit Vaccinen?

Dem daraus erwachsenden Unmut wird nun täglich entgegengehalten, den „Flaschenhals“ stelle nicht die Lieferung der Impfstoffe dar, sondern ihre Produktion, und deren Ausweitung sei kompliziert und nicht binnen weniger Tage zu regeln. Das trifft sicher zu. Aber hätte sich die EU-Kommission nicht bis November Zeit gelassen, sondern ihre Bestellungen bei den Pharma-Unternehmen bereits im Sommer getätigt, wären diese auf Grundlage der Verträge in der Lage gewesen, frühzeitig über Investitionen für zusätzliche Produktionsstraßen zu befinden. Soeben hat Biontech angekündigt, ab Februar werde in einem Werk in Marburg zusätzlich produziert. Bei frühzeitigen Vertragsabschlüssen wäre der Betrieb in der mittelhessischen Universitätsstadt sicher längst umgerüstet.

Aber früher ging es nicht? Zur Erinnerung: Washington orderte bereits im Juli die ersten 100 Millionen Dosen bei BioNTech und Pfizer. Hätten sich die Europäer Trump ausnahmsweise zum Vorbild genommen und ihre Order kurzfristig nachgeschoben, hätte das nichts mit „Impfnationalismus“ zu tun gehabt, sondern sämtlichen Nationen mutmaßlich eine schnellere Lieferung von mehr Dosen garantiert. Ja, es bleibt das Argument, dass kleinere Staaten möglicherweise weniger Marktmacht für eine günstige Preisgestaltung gehabt hätten – aber das wäre angesichts der Billionen, die Europa insgesamt für die Corona-Bewältigung aufzubringen hat, in der Leben-oder-Tod-Frage der Impfmittel kaum das entscheidende Problem gewesen.

Die Europäische Union hat sich immer dem Prinzip der Subsidiarität verpflichtet, die sich auf Deutschland übertragen im Föderalismus spiegelt. Demnach muss die höhere Ebene keine Aufgabe wahrnehmen, die eine Stufe darunter gelöst werden kann. Bei den Impfmitteln soll das plötzlich nicht mehr gelten? Dieser neue Zentralismus Brüssels könnte ja noch überzeugen, wenn er es wenigstens an Geschwindigkeit und Effizienz mit den USA hätte aufnehmen können oder gar mit dem vorbildlich schnellen Israel – oder zumindest mit dem abtrünnigen Großbritannien. Doch in allen diesen Ländern wurde das BioNTech-Mittel schon geimpft, während die EU noch über eine Zulassung beriet. Das Gesamtbild fügt darum dem Image der EU in den Augen der Bevölkerung eher Schaden zu, als dass es eine positive Europa-Botschaft verbreitet.

Der Verzicht auf eine Strategie

Der entscheidende systemische Fehler der Bundesregierung im Umgang mit Corona liegt indes am gänzlichen Verzicht auf eine Strategie. Man begnügt sich seit einem Jahr damit, durch (leichte) Lockdowns und deren Wiederholung und Verlängerung und schließlichen Verschärfung einzelne periodisch auftretende Brandherde auszutreten, anstatt zu überlegen, wie dem Feuer insgesamt die Nahrung entzogen werden kann.

In China hat man das Problem gelöst durch das hermetische Abschotten der Hotspots und die Zwangsquarantäne für möglicherweise Infizierte. In Taiwan, Südkorea, Singapur und anderen asiatischen Staaten hat man auf die penible Kontaktverfolgung mit geeigneten Apps gesetzt und die Pandemie so in den Griff bekommen.

In Deutschland (und Europa) hätte sich das Taiwan-Südkorea-Modell angeboten, und es hätte zumindest in den Parlamenten zur Diskussion gestellt werden müssen. Aber darüber hinaus kommt noch ein weiterer Weg in Frage: Da mehr als 87 Prozent der Corona-Toten in Deutschland aus der Gruppe der über 70-Jährigen stammen, hätte man für Alten- und Pflegeheime, für privat lebende Senioren und deren Kontaktpersonen Schnelltests in großer Zahl zur Verfügung stellen müssen. Gleiches gilt für Menschen mit schweren Vorerkrankungen. So ließen sich diese Gruppen vor möglicherweise infizierten Pflegern oder Besuchern schützen. Das hätte es den Alten ermöglicht, Kinder und Enkel ohne übersteigertes Risiko zu sehen. Die verstörenden Geschichten über Senioren, die völlig einsam in Hospizen starben, weil die Angehörigen nicht zu ihnen durften und die Pfleger keine Zeit hatten, wären vielleicht nicht gänzlich ausgeblieben, aber deutlich seltener zu hören gewesen.

Schnelltests und eine angebliche "Privilegierung"

Schnelltests in gigantischen Mengen für Besucher von Theatern, Museen oder Konzerthallen wären übrigens auch ein Weg, um manchen Kultureinrichtungen einen Weiterbetrieb zu ermöglichen, obzwar der etwa halbstündige Vorlauf nicht leicht zu administrieren ist. Das wäre teuer geworden – doch die Schließung großer Teile des öffentlichen Lebens dürfte am Ende nicht weniger Schaden verursachen. Nötig dabei wäre aber wiederum eine App, in der ein negatives Resultat eines solchen Tests gespeichert würde. Das könnte zumindest für den gleichen Tag, vielleicht auch für 24 Stunden in der Gastronomie als Indiz dafür gelten, dass die getestete Person mutmaßlich nicht infiziert ist.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Die AHAL-Regeln hinsichtlich Abstand, Hygiene und Atemschutzmasken plus Lüften wären auch in diesem Fall unverzichtbar. Und ebenso die Fortsetzung des Durchimpfens der Bevölkerung, das mittelfristig nicht zum juristischen, wohl aber zum faktischen Impfzwang dadurch werden dürfte, dass viele Restaurants, Fluglinien oder Veranstalter nur noch Menschen mit einem entsprechenden Impftestat Einlass gewähren dürften. Das ist dann kein Fall von großmütiger „Privilegierung“ einer kleinen Bevölkerungsgruppe, sondern von Rückübertragung von Freiheitsrechten auf einen als nicht mehr gefährdend angesehenen Personenkreis, der im Laufe des Jahres rasch wachsen dürfte.

Wie ein Lockdown zu verhindern wäre

Der partielle Lockdown wäre mit einer solchen Politik zu vermeiden gewesen. Geschäfte blieben geöffnet, Schulen und Kitas auch. Die Freiheit würde deutlich weniger eingeschränkt, private Begegnungen blieben möglich. Mutmaßlich wäre die Zahl der Infektionen höher. Aber sie träfen eben viel seltener die besonders gefährdeten Gruppen, sondern vornehmlich jüngere Menschen, für die eine Corona-Erkrankung oft auch quälend, aber zumeist nicht tödlich verläuft. Jeder müsste in eigenverantwortlicher Abschätzung des real bestehenden Restrisikos (es gibt bekanntlich auch jüngere und gar kindliche Corona-Opfer) für sich über das Ausmaß an sozialen Kontakten entscheiden.

Leider zeigen die jüngsten Beschlüsse der Kanzlerin und der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten, dass eine umfassende Strategie weiterhin nicht vorhanden ist. Ob die derzeitigen Maßnahmen Anfang Februar wieder aufgehoben werden, ist ganz und gar nicht sicher. Manches lässt ahnen, dass im weiteren Verlauf des Jahres die nächste Welle kommt – denn Impfungen für die breite Bevölkerung wird man, davon geht die Bundesregierung inzwischen aus, nicht vor dem Sommer anbieten können, und der endet bekanntlich erst am 22. September. Darum spricht wenig dafür, dass dieser Lockdown, dessen Ende noch nicht abzusehen ist, der letzte bleibt.

Es muss Schluss sein mit dem Re-Aktionismus

Nun ist die Bundesregierung zweifellos guten Willens. Wenig ist dümmer als von einer „Corona-Diktatur“ zu reden und der Politik zu unterstellen, sie hantiere mit falschen Zahlen, um der Bevölkerung einen Maulkorb zu verpassen. Tja, das hätte dann ja grandios geklappt angesichts der regelmäßigen Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen.

Aber gerade um derartigen Faktenverdrehungen den Nährstoff zu entziehen, dürfen sich Bund und Länder nicht weiter damit begnügen, von einer Beschränkungsmaßnahme zur nächsten zu springen, auf die Impfungen zu hoffen und diese (man erinnere sich der notwendigen zweiten Dosis für jeden Geimpften) gleichwohl nicht schnell zum Abschluss bringen zu können. Das ist weniger als Aktionismus, das ist Re-Aktionismus. Die ökonomische Verheerung der Wirtschaft und insbesondere des Mittelstandes, die Deformation der Bildungsvitae von Schülern und Kitakindern, vor allem bei solchen aus bildungsfernen Haushalten, die Kollateralschäden für ihre Eltern müssen spätestens zum Monatsende gestoppt werden. Deutschland verträgt keine weitere Einschränkung seiner sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Freiheit.

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