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Gesellschaft & Kultur > Analyse einer gespaltenen Gesellschaft

Wie wirklich ist die Wirklichkeit in Corona-Zeiten?

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Zahlen aus einer gespaltenen Gesellschaft: Philip Morris hat die Deutschen in einer hochaktuellen Studie befragen lassen zu ihrer Wahrnehmung der Politik. Nur zehn Prozent sehen die Politik dicht bei den Bedürfnissen der Bürger.

Demoskopie, Foto: Shutterstock
Demoskopie, Foto: Shutterstock

In Deutschland wächst die Distanz – zwischen links und rechts, Stadt und Land, jung und alt, Regierenden und Regierten. Die Entwicklung begann nicht mit Corona, sondern machte sich bereits an früheren politischen Wegmarken fest – spätestens an der Migrantenkrise 2015 und dem Klimaaktivismus des vorigen Jahres. Durch die aktuelle Pandemie aber sind die Entfremdungen und ihre Größenordnungen noch deutlicher zu Tage getreten.

Diese Entwicklung, die das Gerüst der Gesellschaft mürbe zu machen droht, hat Philip Morris jetzt in einer aktuellen, noch nicht abgeschlossenen Studie „Zur Lebenswirklichkeit in Deutschland“ analysiert. „Wie wir wirklich leben“, ist der erste Teil überschrieben, und die grafische Hervorhebung des zentralen Begriffs signalisiert bereits die eigentliche Botschaft: den Unterschied zwischen der Realität und ihrer Wahrnehmung.

Erhebung aus Corona-Zeiten

Die Erhebung, durchgeführt vom Kölner Rheingold-Institut, ist repräsentativ für die Wahlbevölkerung, schreibt der Tabakkonzern einleitend. Diese ersten Ergebnisse wurden bis Ende März ermittelt, sie nahmen also schon die veränderten Realitäten der Corona-Zeit mit. Die Studie wird noch bis Herbst die abschließenden Daten in dieser neuen Wirklichkeit sammeln.

[caption id="attachment_41308" align="alignnone" width="246"]Studie von Philip Morris Studie von Philip Morris[/caption]

Als ein grundlegendes Ergebnis zitiert die Studie „die Erkenntnis, dass die Deutschen insgesamt ihre persönliche Lebenswirklichkeit wesentlich positiver wahrnehmen als die gesellschaftliche Lebenswirklichkeit in Deutschland“. Das ist eine Beobachtung, die in vielen Untersuchungen gemacht werden kann, übrigens keineswegs nur in Deutschland, sondern auch in den USA, aber hier noch einmal in sehr klaren Zahlen abgebildet wird. So empfinden 68 Prozent die Stimmung in Deutschland als generell schlecht, aber nur 27 Prozent ihre eigene Situation. 72 Prozent sagen hingegen, sie selbst lebten sehr gut oder eher gut.

Bedauern über Werteverlust

Doch 63 Prozent stimmen der Aussage zu, die Gesellschaft sei „aus den Fugen geraten und gespalten, das macht mir Angst“. Eine nicht üppige, aber gleichwohl zu konstatierende Mehrheit von 55 Prozent bedauert, es gebe in Deutschland „leider kaum noch verbindliche Werte und Regeln, an die sich jeder halten sollte“.

Bei den großen Zukunftsthemen sind 80 Prozent überzeugt, Digitalisierung und die Herausbildung einer zukunftsfähigen Infrastruktur würden vernachlässigt oder zu langsam vorangetrieben. 70 Prozent sagen das zum Thema „Migration“ und „Integration“. Dieser Punkt allerdings lässt den Leser ratlos zurück: Meint diese gute Zweidrittel-Mehrheit nun, man müsse „mehr machen“ bei der Integration oder „mehr machen“ zur Reduzierung der Migration? An dieser Stelle ist die Studie bei einem für die innere Spaltung ausgesprochen wichtigen Thema leider ohne jede Aussagekraft.

Nur zehn Prozent sehen Politik nahe der Wirklichkeit

Gleichwohl muss es die Verantwortlichen alarmieren, dass nur 10 Prozent auf die Frage nach der generellen politischen Situation der Aussage zustimmen, die Politik sei „nah an der Lebenswirklichkeit und den Sorgen/Bedürfnissen der Bürger“. Und ebenfalls arg magere 12 Prozent bescheinigen der deutschen Politik, sie handele „tatkräftig, mutig und entschlossen“. 56 Prozent sehen hingegen Stillstand und Lähmung in der Politik, 58 Prozent machen „zu viel Zank, Profilierungssucht und unproduktive Streiterei“ als Ursache aus.

Wie aber sollte die Politik „tatkräftig“, „mutig“, „entschlossen“ handeln? Die Widersprüchlichkeit wird hübsch illustriert am Beispiel Klimaschutz. Dort befürworten die Befragten mit Mehrheiten zwischen 62 und 75 Prozent politische Maßnahmen, deren Auswirkungen sie vermeintlich nicht direkt spüren, allen voran „Wiederaufforstung“ und Investitionen in öffentliche Verkehrsmittel oder die Förderung von Wind- und Sonnenenergie. Für Maßnahmen, deren Auswirkungen man selbst spüren würde, gibt es hingegen nur noch Zustimmungswerte zwischen 18 Prozent (höhere CO2-Steuer, Bann von neuen Benzin- oder Dieselmotoren ab 2030) und 39 Prozent (Tempolimit 130 km/h). Ein ähnliches Bild ergibt sich bei Fragen zu Gesundheit und Ernährung: Über 80 Prozent befürworten höhere Löhne in der Alten- und Krankenpflege, aber lediglich 34 Prozent eine Zuckersteuer wie in Großbritannien.

"Fünf Erwartungstypen"

„Fünf Erwartungstypen in unserer Gesellschaft“ hat die Studie identifiziert – und dieses Resümee ist nicht überzeugend. So machen die Meinungsforscher zwei Gruppe aus, die in Summe eine Mehrheit bilden und positiv konnotiert sind: Es gebe 30 Prozent „Zufrieden-Moderate“ (sie sind grundsätzlich einverstanden mit dem status quo) und 27 Prozent „engagierte Optimisten“ (setzen sich konstruktiv-progressiv beispielsweise für Klimaschutz ein, sind zugleich flexibel und offen für Interessenausgleich). Daneben sehen die Demoskopen 17 Prozent „Überforderte-Ängstliche“ (haben vor allem Angst, etwa vor Migration oder Klimawandel), 15 Prozent „enttäuschte Radikale“ (sind in Filterblasen unterwegs, lehnen Klimaschutz und Migration ab) und 11 Prozent „Desinteressierte-Zurückgezogene“ (sind frustriert, haben wenig Interesse an der Politik).

Es ist befremdlich, dass von den Wissenschaftlern im Grunde jeder Unzufriedene mit einem negativen Button versehen wird, also als ängstlich, radikal, überfordert, zurückgezogen. Kann es in einer Gesellschaft, die das Einbringen, den Widerspruch seiner Bürger predigt, wirklich nicht sein, dass Menschen, die entweder unzufrieden sind mit dem aus ihrer Sicht zu geringem Tempo beim Klimaschutz oder einer zu beliebigen Migrationspolitik der faktisch offenen Grenzen, nicht „überfordert“, sondern „kritisch“ sind? Manche „radikal“ sind, aber andere lediglich „skeptische Mahner“? Eine Einteilung in gute Bürger, die der grundsätzlichen Linie der Politik zustimmen, und überforderte Bürger, die mit ihren Ängsten nicht fertig werden, bildet kaum eine Lebenswirklichkeit ab, die bislang nicht beurteilen kann, ob die deutsche Umwelt-, Energie-, Wirtschafts-, Sozial- oder Asylpolitik erfolgreich sein wird oder zu noch schlimmeren gesellschaftlichen Verwerfungen führen wird.

Gleichwohl liefert die Studie von Philip Morris wichtige Orientierung in unübersichtlicher Zeit. Offenkundig hat Corona die Verunsicherung in Deutschland weiter erhöht. Nicht nur die Ränder, auch der Kern der Gesellschaft scheint auseinanderzustreben. Welche Partei weiß um den richtigen Weg, die zunehmenden Instabilitäten wieder auszugleichen? Auf den Abschluss der Studie im Herbst dürfen wir mit Spannung warten.

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