Die Marke Wladimir Putin wird immer stärker
Russland hat für ein neues Grundgesetz gestimmt und Präsident Wladimir Putin kann nun bis 2036 regieren. Doch was bedeutet eigentlich die neue Verfassungsänderung?

Am 1. Juli 2020 stimmte Russland über die größte Verfassungsreform seit der Einführung der Verfassung im Jahr 1993 ab. Die Verfassungsreform bringt neben vielen umstrittenen Änderungen eine Annullierung der Amtszeiten von Wladimir Putin und ermöglicht ihm eine erneute Kandidatur sowohl 2024 als auch 2030; dies wurde vom russischen Verfassungsgericht geprüft und für rechtens befunden. Das Verfassungsgericht berief sich dabei auf „spezifische historische Voraussetzungen, einschließlich des Bedrohungsgrades für den Staat und die Gesellschaft sowie des Zustandes des politischen und des wirtschaftlichen Systems“. Die gleiche Frage in Bezug auf die erneute Kandidatur von Boris Jelzin im Jahr 2000 hat das Verfassungsgericht 1998 mit einem klaren Nein beantwortet.
Die Verfassungsreform bringt eine formelle Stärkung der Rolle russischen Präsidenten innerhalb des Staatssystems. Die Stärkung der Rolle des Präsidenten erfolgt sowohl gegenüber der Regierung als auch gegenüber dem Parlament, als auch gegenüber dem Verfassungsgericht. Doch handelt es sich dabei um eine rein formelle Stärkung der Rolle des Präsidenten. Die in die Verfassung aufgenommenen Kompetenzen hat der Präsident bislang entweder auf gesetzlicher Grundlage oder machtfaktisch ohnehin ausgeübt.
Die einzige nennenswerte Einschränkung präsidialer Machtausübung besteht in der Amtszeitbegrenzung. In Zukunft kann es nur noch höchstens zwei Amtszeiten für den Präsidenten geben. Bislang galt die Begrenzung für zwei Amtszeiten „in Folge“. Die Formulierung „in Folge“ ermöglichte es Putin nach zwei Amtszeiten als Präsident von 2000 bis 2008 in den Jahren 2012 und 2018 erneut zu kandidieren. In Zukunft wird das nicht möglich sein. Für Wladimir Putin gilt diese Einschränkung aber nicht.
Ein kleines aber wichtiges Detail am Rande: Nach dem Ende der Präsidentschaft erhält der ehemalige Präsident Immunität gegen Strafverfolgung sowie den Rang eines Senators im Föderationsrat, der Oberkammer des russischen Parlaments. Auf diese Weise genießt der ehemalige Präsident eine doppelte Immunität gegen Strafverfolgung: als ehemaliger Präsident und als Mitglied des Föderationsrates.
Die zahlreichen weiteren Änderungen entpuppen sich bei einer genaueren Betrachtung als weitgehend kosmetischer Natur. Gleiche oder ähnliche Rechtspositionen finden sich bereits seit vielen Jahren entweder in der Verfassung selbst, in Gesetzen oder in ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichts wieder. Eine weitere Erwähnung in der Verfassung wäre somit nicht notwendig gewesen.
Wozu bedarf es also der zahlreichen Verfassungsänderungen?
Das russische System ist ein sogenanntes „plebiszitäres Regime“. In den plebiszitären Regimen dienen die unterschiedlichen Formen der Referenda (Wahlen, Volksabstimmungen etc.) nicht dem demokratischen Wettbewerb alternativer politischer Projekte, sondern der Legitimität der durch die Staatsführung bereits getroffenen Entscheidungen. Die positiven Abstimmungsergebnisse werden der Öffentlichkeit als Beweis für die Unterstützung politischer Führung durch die Bevölkerungsmehrheit präsentiert.
Die verfassungsrechtlich nicht erforderliche „gesamtnationale Volksabstimmung“ über die Verfassungsreform soll mit Hilfe der zahlreichen Verfassungsänderungen möglichst viele Menschen zu den Abstimmungsurnen bringen und somit für eine ausreichende Legitimität sorgen; so insbesondere die Präsidentschaftskandidatur Wladimir Putins 2024 in den Augen der Bevölkerung rechtfertigen. Wie bereits bei den Präsidentschaftswahlen 2018 verfolgt die russische Präsidialadministration wohl wieder die sogenannte 70/70 Strategie – 70% der Wahlberechtigten sollen eine 70% Zustimmung für die Verfassungsreform garantieren. Deswegen werden zur Erhöhung der Beteiligung an dieser Abstimmung, auch – vorsichtig formuliert – ungewöhnliche, teils widersprüchliche, Verfassungsänderungen vorgeschlagen, welche aber unterschiedliche politische Lager und Bevölkerungsgruppen zufrieden stellen sollen.
Beweggründe für die Überraschungsreform
Mit der Erweiterung des Einflusses des Präsidenten innerhalb des russischen Machtsystems reagiert Kreml auf die Protestwellen der Jahre 2018/2019, behält die Kontrolle über den Machttransit und bereitet sich, sicherheitshalber, auf eine nicht zur Kooperation bereite, präsidenten-unfreundliche Staatsduma vor. Vor allem aber rückt mit der Verfassungsreform die heiß diskutierte Nachfolgerfrage in den Hintergrund. Damit bannt Putin aber auch die, ohnehin nicht allzu große, Gefahr bereits im Jahr 2020 als „Lame-Duck-Präsident“ betrachtet zu werden. Der Machttransit in der jetzigen Form entpuppt sich als jedenfalls vorläufiger Machterhalt für das System Putin. Der hinausgezögerte Machttransit dürfte aber nach dem Rückzug Wladimir Putins umso problematischer ablaufen und das Land an den Rand einer schweren politischen Sinnkrise bringen. Der schmale Grat zum Abgrund revolutionärer Umbrüche dürfte aber selbst in diesem Fall nicht überschritten werden.
Dass Wladimir Putin nach 2024 bleibt, stand außer Frage. Dass er auch nach 2024 das Amt des Präsidenten bekleiden wird, ist aber eine große Überraschung. Bislang wurde diese Möglichkeit als ein durchaus vorstellbares, aber dennoch als ein Ultima-Ratio-Szenario betrachtet. Kaum war das Vorgehen des Kremls rund um die Verfassungsreform spontan, vielmehr war es eine minutiös geplante Inszenierung. Scheinbar ging man zunächst von mehreren Machttransit-Varianten aus; diese dürften aber als zu risikoreich bewertet worden sein. Letztlich entschied sich Kreml gegen das Machttransitszenario nach Vorbild Kasachstans. Eine nicht unbedeutende Rolle dürfte dabei (ähnlich wie schon 2011 bei der Rochade zwischen Wladimir Putin und Dmitri Medwedew) der Druck von Seiten eines engen Elitenzirkels gespielt haben.
Putin und Eliten: Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt?
Die Führung der Russischen Föderation bildet heute ein Konglomerat aus unterschiedlichen mit- und gegeneinander um den Zugang zu Ressourcen konkurrierenden Elitengruppen. In diesem System kommt dem Präsidenten der Russischen Föderation die Rolle eines sehr einflussreichen Schiedsrichters und Moderators zu, dessen Wort im Konfliktfall entscheidend bleiben wird. In manchen Bereichen (insbesondere im Bereich der Außenpolitik) kommt Wladimir Putin das Privileg des letzten Wortes zu. Die nicht selten konterkarierenden Gruppeninteressen gefährden aber das ohnehin labile Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Elitengruppen. Vor diesem Hintergrund hängt die Stabilität des gesamten politischen Systems Russland vom Verhalten Putins ab. Dennoch ist Putin nicht der alleinige Entscheidungsträger mit schier diktatorischen Vollmachten. Für eine personalistische Diktatur ist das gegenwärtige russische System viel zu komplex: Es weist eine zu hohe Elitenkontinuität im Vergleich zur Sowjetära sowie der Amtszeit Boris Jelzins auf; zu unterschiedlich sind die Partikularinteressen der einzelnen Elitengruppen, zu einflussreich und eigenständig manche der Akteure. Solcherart bildet das heutige Russland ein mit schwachen demokratischen Institutionen versehenes und starken autoritären Zügen behaftetes plebiszitäres Regime der vielen Grautöne.
Für die zahlreichen Elitengruppen Russlands wird die Lage zunehmend schwierig. Der Komplexitätsgrad steigt stark an. Die politische Elite scheint allein der Gedanke an den Machttransit in eine Art Schockstarre zu versetzen. Man denke bloß an den berüchtigten Satz des russischen Parlamentspräsidenten Wjatscheslaw Wolodin, wonach es „ohne Putin kein Russland“ geben werde. Insofern sorgt die aktuelle Verfassungsreform, insbesondere aber der angekündigte Verbleib von Wladimir Putin als Präsident, für eine gewisse Beruhigung unter den politischen Eliten. Freilich handelt es sich dabei um nicht mehr als eine vorübergehende Atempause und nicht um eine langfristige Einzementierung des Status quo. Um ihre Zukunft in einem Post-Putin Russland abzusichern, werden die Elitengruppen die kommenden Entwicklungen auf mehreren Ebenen gleichzeitig beachten und unterschiedliche Felder parallel abdecken müssen: so u.a. die in Zukunft leicht anwachsenden Kompetenzen des Parlaments, die Stellung des mit weiteren Kompetenzen ausgestatteten Staatsrates, Aufkommen neuer Akteure im Rahmen des Generationenwechsels, die Rolle von Putin im zukünftigen Machtsystem.
Als eigentlicher Schöpfer und zentraler Gestalter des politischen Systems beweist Wladimir Putin erstaunliche Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Über Jahrzehnte gelingt es ihm, die Marke „Putin“ erfolgreich zu vermarkten und mehrfach unter Beweis zu stellen, dass der Posten „Putin“ weitaus attraktiver und letztlich unersetzlich ist, im Vergleich zu den Posten „Präsident“ oder „Premierminister“. Der hohe Personalisierungsgrad, schwache Institutionen, ein handgesteuertes politisches System und eine noch gut kontrollierbare politische Landschaft sind Putin letztlich zum Verhängnis geworden. Ein – freiwilliger – Rückzug ist nicht nur schwer vorstellbar, sondern in Wahrheit aus machtfaktischen Gründen auch kaum möglich. In Anbetracht dieser Tatsachen ist das Fehlen einer klaren Vorstellung oder gar einer ausgeklügelten Strategie für ein Post-Putin Russland nicht weiter verwunderlich. Doch auch einem Post-Putin Russland wird Wladimir Putin, selbst nach dem endgültigen Ausscheiden aus der Politik, über Jahrzehnte erhalten und ähnlich wie Francisco Franco in Spanien in den politischen Diskussionen als steinerner Gast präsent bleiben.
Wer wird Putins Nachfolger?
Der heutige Premierminister Russlands Michail Mischustin bleibt nach wie vor ein technisch-ausführender und nicht ein politisch-gestaltender Premierminister. Als reiner Technokrat für alle Härtefälle, ohne politische Ambitionen und Hausmacht, sollte Mischustin, wie die beiden technokratischen Premierminister in den Nullerjahren Michail Fradkow und Wiktor Zubkow, die zentralen Aufgaben (Vorbereitung der Verfassungsreform sowie Durchführung Nationaler Projekte) technisch einwandfrei administrieren. Damit erfüllt er aber eine viel wichtigere Aufgabe, eine stabile Grundlage für den kommenden politischen Premierminister vorzubereiten. Mischustins ansehnliche Leistungsbilanz während der COVID-19 Krise sicherte ihm zwar die Gunst von Wladimir Putin, die realpolitische Rolle Michail Mischustins bleibt jedoch nach wie vor begrenzt. Insofern sollte der Technokrat Mischustin nicht als ernstzunehmender Nachfolger Putins betrachtet werden. Aber auch der zukünftige politische Premierminister sollte lediglich als ein möglicher – aber eben nur ein möglicher und nicht der sichere – Nachfolger gehandelt werden. Denn die Nachfolgerfrage bleibt weiterhin offen.
Ein Vertreter der Gruppe der sogenannten Silowiki (Personen mit Geheimdienst-, Polizei oder Militärhintergrund) als Premierminister ist nur schwer vorstellbar. Dies würde die Chancen von beispielsweise Alexej Djumin, Gouverneur des Gebietes Tula, oder Dmitri Mironow, Gouverneur des Gebietes Jaroslawl, mindern. Denn gegenüber den Silowiki verfolgt die russische Führung die Politik des „Teile-und-herrsche“ mit der Zielsetzung eine Konsolidierung der Silowiki rund um eine andere politische Figur als Wladimir Putin zu verhindern. Selbst offen ausgetragene Konflikte innerhalb dieser heterogenen Gruppe (wie beispielsweise zwischen Inlandsgeheimdienst und Ermittlungskomitee) werden vom Kreml geduldet, ja zeitweise bewusst gefördert. Zu groß erschiene aus der Sicht Kremls die Gefahr die Führungsrolle, somit die Kontrolle über diese Gruppe an einen jüngeren potentiellen Kronprinzen zu verlieren und eine Palastrevolte zu riskieren.
Aber auch einst als Kronprinz gehandelter Dmitri Medwedew sollte trotz seiner ruhmlosen Absetzung im vergangenen Januar nicht abgeschrieben werden. Der eigens für Dmitri Medwedew geschaffene Posten des stellvertretenden Leiters des Sicherheitsrates sieht auf den ersten Blick nach einer klaren Degradierung, bestenfalls einem vorübergehenden Versorgungsposten, aus. Dieser Eindruck täuscht aber. Angesichts des tiefen Vertrauen- und Loyalitätsverhältnisses zwischen Putin und seinem ehemaligen Premierminister dürfte Medwedew für höhere Weihen bestimmt sein und wird in den kommenden Jahren den Machttransit eng mitbegleiten. Derzeit positioniert er sich – medial wie innerelitär – als einen gemäßigten liberalen Politiker mit einem systemischen, ganzheitlichen Blick auf die internen und externen Probleme Russlands, einen Befürworter multilateraler internationaler Kooperationen und Institutionen sowie einen Vertreter strategischer Partnerschaft mit China und einer pragmatischen, interessenbasierten Partnerschaft mit der EU.
Alles bleibt anders
Bedeutet die Verfassungsreform politischen Stillstand in Russland? Nicht unbedingt. Die Frage des Machttransits hin zu einem Post-Putin Russland beschränkt sich nicht auf die Person Putins oder einen einzelnen Nachfolger. Eine ganze Nachfolgergeneration bezieht gerade in Russland machtpolitisch auf unterschiedlichen Ebenen Stellung. Mit jedem Tag gewinnt die Nachfolgergeneration an Stärke, Profil und Einfluss. Ganz im Sinne des laufenden Generationenwechsels sind die Vertreter der neuen Generation junger Technokraten (z.B. Anton Alichanow, Gouverneur des Gebietes Kaliningrad, Anton Wajno, Vorsitzender der Präsidialadministration, oder auch Aisen Nikolaew, Oberhaupt der Republik Jakutien) bereits heute in wichtige Positionen zu finden, werden in den kommenden Jahren sowohl den Posten des Premierministers als auch einige Ministerien übernehmen und entscheidenden Einfluss auf die Geschicke des Staates über den mit zusätzlichen Kompetenzen ausgestatteten Staatsrat ausüben.
Die Vertreter dieser Gruppe haben im westlichen Ausland studiert, pflegen ein betont angelsächsisches Auftreten und sind dennoch nicht pro-westlich eingestellt. Sie gehen lösungsorientierter an die komplexen Probleme heran, scheuen sich nicht davor, Konflikte einzugehen und wirken dabei erstaunlich unpolitisch. Sie ähneln nicht der alten – kriecherisch gegenüber den Vorgesetzten und der Politik, gebieterisch gegenüber den Untergebenen und der Bevölkerung agierenden – (Post)Sowjetbürokratie, sind aber eiskalte Pragmatiker der Macht.
Für sich dürfte Wladimir Putin als politischer Ziehvater der neuen Technokraten die denkende und lenkende Rolle beim Generationenwechsel sowie dem bevorstehenden evolutionären Umbau des gesamten Staats- und Machtsystems vorgesehen haben; dies wohl im Geist von Deng Xiaoping oder Lee Kuan Yew. Durch die erneute Kandidatur und die sichere Wiederwahl 2024 erhofft sich Putin mehr Kontrolle, vor allem aber Zeit, um die bevorstehenden Veränderungen unter enger Begleitung abzuschließen.
Das von Wladimir Putin über die vergangenen zwei Jahrzehnte geschaffene Machtsystem verändert sich langsam, dennoch grundlegend und unwiderruflich. Letzteres gilt aber auch für die russische Gesellschaft, welche schrittweise zu einem politischen Bewusstsein ihrer Selbst gelangt, nach mehr Mitbestimmung strebt, politische Bevormundung ablehnt und für die Pläne des Kremls die eigentliche Schlüsselunsicherheit darstellt.