Mai 1945: Nur fünf Jahre bis Europa
Exakt eine halbe Dekade nach dem Kriegsende legte der französische Außenminister Robert Schuman mit seinem Plädoyer für die Montanunion die Grundlage für die europäische Einigung

Für die katholische Kirche ist der Mai der Marienmonat, für EU und Europarat der Europamonat, für die romantische Dichtung der Wonnemonat und für Feinschmecker der Spargelmonat. Düsteres Gedenken ist weitgehend dem nebligen November vorbehalten. Dennoch beschert uns die Geschichte für die erste volle Maiwoche ein Datum, das sich auch Jahrzehnte später äußerst zwiespältig präsentiert. Am 8. und am 9. Mai 1945 - je nachdem, ob man mitteleuropäische oder russische Zeit anwendet - ging zumindest in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende. Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel unterzeichnete im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht - daher der Datumsstreit, denn dieser Schritt erfolgte zwar im zerstörten Herzen Mitteleuropas, wurde aber von der Roten Armee, weil es bereits kurz vor Mitternacht war, nach russischer Zählung dem nächsten Tag zugeordnet.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker nannte 1985 den 8. bzw. 9. Mai in seiner Rede zum 40. Jahrestag einen "Tag der Befreiung". In der Tat endete mit dem Zweiten Weltkrieg das sinnlose Morden an den Fronten und im Hinterland, ebenso der Bombenkrieg gegen eine wehrlose Zivilbevölkerung. Das braune Verbrecherregime wurde gestürzt, die Konzentrationslager befreit und der Holocaust gestoppt. Andererseits begann aber für viele Millionen Europäer - darunter rund 20 Millionen Deutsche - ein neuer Leidensweg. Sie gerieten unter kommunistische Herrschaft, tauschten also die eine Diktatur gegen eine andere aus. Etwa 14 Millionen Deutsche wurden vertrieben, die Reste der deutschen Volksgruppen im Osten, die bleiben konnten oder mussten, kollektiv entrechtet und vielfach zwangsassimiliert.
An all das zu erinnern ist nicht nur erlaubt, sondern auch für künftige Generationen dringend notwendig, um aus der Geschichte die richtigen Lehren zu ziehen. Ich erinnere mich an eine Auseinandersetzung am Rand einer Straßburger Plenartagung des Europaparlamentes 1985, als eine deutsche Jungsozialistin sich vehement einer Anregung von Otto von Habsburg widersetzte, den 40. Jahrestag von Teilung und Vertreibung auch auf europäischer Ebene zu diskutieren. Sie meinte sinngemäß, die Teilung Deutschlands und Europas durch den Eisernen Vorhang müsse einfach hingenommen werden, denn sie sei die gerechtfertigte Strafe für die Verbrechen Adolf Hitlers. Da sprang ein italienischer Sozialdemokrat tschechischer Herkunft, Jiří Pelikán, empört auf und rief: "Du kannst ja leicht hier in Straßburg von Buße reden und gleichzeitig nicht nur Millionen Deutsche, sondern auch uns Tschechen, Polen und viele andere stellvertretend für dich büßen lassen!" Damals wurde schließlich doch eine Aussprache über das Abkommen von Jalta vom 11. Februar 1945 auf die Tagesordnung gesetzt. Am 8. Mai 1985 folgte dann die historische Rede des US-Präsidenten Ronald Reagan, bei der dieser die Befreiung der Mittel- und Osteuropäer forderte und vorhersagte, man werde noch vor Ende des Jahrhunderts ohne Pass von Portugal bis an die Grenzen Russlands reisen können.
Die UNO nicht schwächen, sondern stärken
Heute sitzen die Vertreter dieser Völker, vom Baltikum bis zum östlichen Balkan, selbst im Europaparlament und wehren sich offensiv gegen eine Geschichtspolitik, die die kommunistische Unterdrückung nach dem 9. Mai 1945 ausklammert.
Die Paneuropa-Union als älteste europäische Einigungsbewegung hatte in den fast hundert Jahren ihres Bestehens nur drei internationale Präsidenten, die den 8. Mai 1945 sehr unterschiedlich erlebten. Paneuropa-Gründer Richard Graf Coudenhove-Kalergi, der vor Hitler in die USA fliehen mußte, befand sich an diesem Tag in San Francisco als Gast jener Konferenz, die der Gründung der Vereinten Nationen dienen sollte. Er verbündete sich mit arabischen und südamerikanischen Repräsentanten gegen eine Tendenz, kontinentale Zusammenschlüsse zugunsten einer zentralistischen Weltordnung zu unterbinden. In seinen Erinnerungen schreibt er, daß der Konflikt zwischen USA und Sowjetunion schließlich auch in San Francisco die Einsicht reifen ließ, daß ein vereintes Europa die aufzubauende UNO nicht schwächen, sondern stärken werde.
Sein enger Mitstreiter und späterer Nachfolger Otto von Habsburg war aus der Washingtoner Emigration mit den Truppen von General de Gaulle nach Europa zurückgekehrt und hielt sich zunächst im soeben befreiten Paris auf. Zeitlebens erzählte er von dem Heimatgefühl, das ihn schon bei der Landung in Portugal erfaßte: "Es war so schön, wieder krumme und nicht nur gerade Straßen zu sehen." Von Hitler zu Tode verurteilt und per Steckbrief gesucht, hatte er in den USA für ein vereintes Europa, eine freie Donauföderation und ein unabhängiges Österreich gestritten. Dorthin, nämlich nach Tirol, gelangte er mit Hilfe der französischen Truppen, wurde aber von der Regierung Renner im Zusammenspiel mit Stalin wieder ausgewiesen.
Der heutige Paneuropa-Präsident Alain Terrenoire war zwar erst ein vierjähriges Kind, aber dennoch in das Kriegsgeschehen verwickelt. Sein Vater, der große Paneuropäer Louis Terrenoire, Generalsekretär der Widerstandsbewegung Résistance und später als Minister einer der engsten Weggefährten von General de Gaulle in der V. Französischen Republik, hatte jahrelang im KZ Dachau gelitten und erlebte das Kriegsende als Zwangsarbeiter im sehr grausam geleiteten Außenlager Kottern-Weidach bei Kempten, wo ihn die Alliierten aus der Gefangenschaft erlösten. Sein Sohn Alain heiratete später eine heimatvertriebene Schlesierin, die er beim Aufbau des Deutsch-Französischen Jugendwerkes kennengelernt hatte, und war der Assistent von Louis Terrenoire, als dieser im französischen Parlament Berichterstatter für den deutsch-französischen Versöhnungsvertrag (Elysée-Vertrag) von 1963 wurde.
Frei für Europa
Der 9. Mai ist nicht nur deshalb auch ein entscheidendes europapolitisches Datum, weil 1945 zumindest die Hälfte des Erdteiles wieder ihre Freiheit erlangte und begeisterte Anhänger der europäischen Einigung aus dem Exil, aus den Konzentrationslagern und aus dem Untergrund sich für gemeinsame Aktionen zusammentaten. Die Geschichte hat es darüber hinaus gefügt, dass exakt fünf Jahre später, nämlich am 9. Mai 1950, Robert Schuman mit seiner berühmten Erklärung die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) einleitete, aus der die heutige EU entstand.
Zu den wenigen materiellen Besitztümern, an denen ich hänge, gehört ein Exemplar der 1923 erschienenen Erstauflage des Buches "Pan-Europa" von Richard Coudenhove-Kalergi, das dieser handschriftlich seinem Freund und Mitstreiter Robert Schuman widmete. Coudenhove steht wie kein zweiter für die europäische Antwort auf den Nationalismus, der in den Ersten Weltkrieg geführt hatte und nach diesem leider weitertobte. Schuman wiederum formulierte mit Coudenhove, aber anders als dieser auf Regierungsebene, die europäische Antwort auf den Zweiten Weltkrieg.
Lothringen und Luxemburg
Beide hatten gemeinsam, daß sie Männer der Grenze waren. Coudenhove war geprägt vom Zweivölkerland Böhmen, Schuman vom zweisprachigen Lothringen. Dort stehen in fast jedem Dorf Kriegerdenkmäler für die Männer, die als Franzosen 1870/71 fielen, für deren Söhne, die als Deutsche im Ersten Weltkrieg starben, und die Enkel, die dann nach 1939 auf einer der beiden Seiten rekrutiert worden waren. Schumans Vater, der aus dem lothringisch-luxemburgischen Grenzort Evrange stammte, hatte zur ersteren Kategorie gehört. Nach dem Frankfurter Vertrag vom 10. Mai 1871 hätte er sich in Frankreich niederlassen können, aber auch im deutsch gewordenen Hauptteil Lothringens. Weil ihm beides zuwider war, zog er nach Luxemburg, wo er eine Tochter des Landes heiratete, und gab 1885 in der Volkszählungsliste des kleinen Großherzogtums in der Rubrik "Staatsangehörigkeit" eine nicht vorgesehene Bezeichnung an: "Lothringer".
Zwischen den Nationalstaaten verlief auch das Schicksal des im luxemburgischen Clausen geborenen Sohnes Robert. Nach dem Jurastudium in Bonn, München, Berlin und Straßburg organisierte er als im lothringischen Metz ansässiger Rechtsanwalt 1913 den zweisprachigen Deutschen Katholikentag in dieser Stadt. Dazu hatte ihn der Metzer Bischof Willibrord Benzler berufen, als Abt der legendäre Wiederbegründer des Benediktinerklosters Maria Laach in der Vulkaneifel 90 Jahre nach dessen Säkularisierung durch Napoleon. Schuman gehörte schon als Bonner Student zum Freundeskreis von Maria Laach und pilgerte dorthin - wie auch der junge Rheinländer Konrad Adenauer und der junge Trientiner Alcide de Gasperi. Die späteren christlichen Gründerväter Europas lernten sich bereits damals kennen, was aber bei ihren Versöhnungsbemühungen nach dem Zweiten Weltkrieg anfänglich verheimlicht werden mußte, weil die nationalen Emotionen in ihren Ländern noch so stark waren.
Mitglied der französischen Nationalversammlung ab 1919, erwies sich Schuman schon damals als überzeugter Europäer und patriotischer Franzose zugleich. Er übernahm im Parlament in Paris den Vorsitz des dortigen Ausschusses für Elsaß-Lothringen, in dem er sich gegen den jakobinischen Zentralismus der "République une et indivisible" wandte und sich für die Bewahrung der Eigenart dieser beiden Regionen einsetzte. 1924 Mitbegründer der lothringischen Christdemokratie, gehörte er zu den jungen katholischen Aktivisten aus ganz Europa, die 1925 in Bierville in der Normandie mit einem damals einzigartigen Kongreß gegen den Nationalismus demonstrierten und auf Vorschlag des Gründers der italienischen Volkspartei, Don Luigi Sturzo, die Schaffung eines gemeinsamen Marktes als Vorstufe eines politisch geeinten Europa forderten. Don Sturzos Generalsekretär war Alcide de Gasperi. Vier weitere Kongresse dieser Gruppierung folgten, der letzte fand am Vorabend der nationalsozialistischen Machtergreifung in Köln statt, wo Konrad Adenauer, aktives Mitglied der Paneuropa-Union Deutschland, Oberbürgermeister und Gastgeber war.
Der Mut von Robert Schuman
1939 zum Staatssekretär für das Flüchtlingswesen berufen, kümmerte sich Robert Schuman um die Menschen, die vor dem nationalsozialistischen Terror aus Deutschland und dem Donauraum nach Westen strebten. Marschall Pétain bot ihm in der Kollaborationsregierung mit den Nationalsozialisten ein Ministeramt an, was er ablehnte. 1940 wurde seine Einlieferung ins KZ in letzter Minute gestoppt, weil NS-Gauleiter Josef Bürckel sich vor der Popularität des ehemaligen Abgeordneten bei den Lothringern fürchtete. Während des Hausarrests in der Verbannung im pfälzischen Neustadt sagte er auf dem Höhepunkt der NS-Herrschaft zu seinem Nachbarn, Studienrat Dr. Georg Pfeiffer: "Es gibt nur eine Rettung - das sind die Vereinigten Staaten von Europa." Zur gleichen Zeit mußte sich sein Gesinnungsfreund Konrad Adenauer in Maria Laach vor den NS-Schergen verstecken, und Alcide de Gasperi sich als Bibliothekar im Vatikan den Pressionen Mussolinis entziehen.
Robert Schumans große Stunde schlug in den Jahren 1947 bis 1953, in denen er zuerst Ministerpräsident und dann Außenminister im befreiten Frankreich war. Zu den wegweisenden Vertragswerken, an denen er führend mitwirkte, gehörten die UN-Konvention gegen den Völkermord 1948, der Nordatlantik-Pakt und die Gründung des Europarates 1949, der dann leider an der Opposition gescheiterte Vertrag über die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft sowie die Straßburger Konvention für Menschenrechte und bürgerliche Grundfreiheiten 1953.
Sein Glanzstück war aber die Schaffung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Sie war die Antwort auf die von ihm immer wieder bohrend gestellte Frage "Was wird aus Deutschland?", das damals allerdings auf die Bundesrepublik im Westen beschränkt war und keine Gleichberechtigung genoß. Der unglaubliche Mut Schumans zeigte sich schon 1948 bei seiner Antrittsrede vor der UNO, in der er sich zum Entsetzen vieler Franzosen offiziell vom Versailler Vertrag distanzierte und dazu aufrief, dieselben Fehler gegenüber Deutschland nicht zu wiederholen. Sein Kampf für die deutsch-französische Aussöhnung wurde ihm, der einen deutschen Namen trug und Französisch mit Lothringer Akzent sprach, als Verrat vorgeworfen. In der Nationalversammlung hagelten Schmährufe auf ihn nieder, als er seine entsprechende Initiative vortrug. Die Opposition rief "Boche, boche!", was ein Wort für "Deutscher" ist, aber kein freundliches. Der elsässische Paneuropäer Joseph Daul, bis vor kurzem Präsident der Europäischen Volkspartei, weist immer wieder darauf hin, daß Schuman, wenn er ein Referendum über die deutsch-französische Aussöhnung durchgeführt hätte, 98 Prozent der Wähler gegen sich gehabt hätte.
Kohle und Stahl
Die Idee der auch "Montanunion" genannten EGKS war ebenso einfach wie genial: Die kriegswichtigen Rohstoffe Kohle und Stahl, um deren Besitz und mit deren Hilfe Deutsche und Franzosen jahrhundertelang gegeneinander gekämpft hatten, sollten nur fünf Jahre nach dem größten Krieg der Menschheitsgeschichte in einen gemeinsamen, übernationalen Topf gelegt werden, den Sieger wie Besiegte gleichberechtigt miteinander verwalten würden. Das erste Konzept dazu hatte Prof. Paul Reuter von der Sorbonne entwickelt, Jean Monnet überarbeitete es. Der damalige Premierminister Georges Bidault befand das Eisen als zu heiß, aber Schuman las den detaillierten Plan an einem einzigen Wochenende und verkündete ihn wenige Tage später, eben am 9. Mai 1950, im Uhrensaal des Quai d'Orsay. 24 Stunden zuvor hatte er einen geheimen Kurier mit dem Text der vorgesehenen Erklärung und einem persönlichen Brief zu seinem alten Freund Adenauer nach Bonn geschickt, der, ebenso wie wenig später de Gasperi, das Projekt begeistert unterstützte. Schuman war bereits Monate früher mit der Idee einer Europäischen Union und eines Europäischen Parlamentes in die Öffentlichkeit getreten.
Dies und die Titulierung der Kohle-und-Stahl-Gemeinschaft als "erste Etappe der europäischen Föderation" macht deutlich, daß es nicht in erster Linie um Wirtschaft ging, sondern um eine dauerhafte Friedensordnung. Der französische Außenminister wollte wie Adenauer und de Gasperi weder ein zentralistisch-technokratisches Europa noch ein "Europa der Vaterländer" im Sinne bloßer Regierungszusammenarbeit. Als Sohn des alten europäischen Herzlandes Lothringen verfocht er mit den beiden anderen christlichen Staatsmännern ein bundesstaatliches Konzept, in dem auch die Nationen und die Regionen ihre Bedeutung behalten, das aber wichtige Kompetenzen auf eine supranationale Ebene delegiert. Dies war der Grund, warum sich Großbritannien damals dieser EGKS nicht anschloß, die als Sechsergemeinschaft Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg umfaßte.
Lakonisches Ausräumen
Schumans Friedenswerk wäre nicht denkbar gewesen ohne seinen tief verwurzelten christlichen Glauben, den er mit Adenauer und de Gasperi teilte. Dabei war er ein sehr nüchterner, bescheidener und fast trockener Mann. Die Alterspräsidentin des ersten direkt gewählten Europaparlamentes von 1979, Louise Weiss, charakterisierte ihn in ihrer berühmten Eröffnungsrede als "Schweiger", der "auf lakonische Art die inneren Widersprüche unseres Kontinents ausräumte". Dies paßt gut zu Schumans Aussage, daß die Jugend "das Zwecklose und Widersinnige nationalstaatlicher Engherzigkeit mehr und mehr einsieht ... Der so feuergefährliche Prestigeplunder hat für sie keinen Reiz mehr."
Der Kampf für ein christliches Europa war für Schuman Dienst und nicht ideologisches Auftrumpfen. In Paris ging er jeden Tag in aller Stille und allein zur Frühmesse, bei den Sitzungen des noch nicht direkt gewählten Europaparlamentes, dessen erster Präsident er 1958/59 war, dienstags und donnerstags zum Gottesdienst in die Krypta des Straßburger Münsters, ohne öffentlich viel Aufhebens um seine religiöse Verankerung zu machen. Dennoch war für ihn das Christentum nicht nur die Wurzel des von ihm gelebten und praktizierten Versöhnungsgedankens, sondern auch wesentliche Voraussetzung für eine freie und gerechte Gesellschaft. Mit beeindruckender Klarheit betonte er, daß Demokratie in Europa ohne christliche Fundamente nicht gelingen könne. Seine christliche Kultur verdanke unser Erdteil seinem ununterbrochenen Ringen um die Wahrheit.
Auch Osteuropa
Visionär war Robert Schuman auch auf einem anderen Gebiet. Bereits 1950 verfaßte er ein Papier, das er einige Jahre später in Straßburg seinen Vertrauten Hans-August Lücker und Jean Seitlinger zeigte. Darin hieß es: "Wir müssen das geeinte Europa nicht nur im Interesse der freien Völker errichten, sondern auch, um die Völker Osteuropas in die Gemeinschaft aufnehmen zu können, wenn sie von der Unterdrückung, unter der sie leiden, befreit sind, und um ihren Beitritt und unsere moralische Unterstützung nachsuchen werden. Seit langen Jahren verspüren wir schmerzhaft die ideologische Demarkationslinie, die Europa spaltet. Gewalt hat sie erzwungen; die Freiheit muß sie auslöschen." Dies ist der Geist, in dem 1950 auch das so genannte Wiesbadener Abkommen zwischen heimatvertriebenen Sudetendeutschen und Exiltschechen abgeschlossen wurde sowie anschließend die wegweisende Charta der deutschen Heimatvertriebenen.
Robert Schuman ist inzwischen zum Maßstab für den Versöhnungsgedanken in Europa und in der Welt an sich geworden. Sein Seligsprechungsverfahren im Vatikan ist positiv abgeschlossen, und es heißt, man warte noch auf ein Wunder, das dem Verstorbenen nachgewiesen werden kann. Was soll denn ein Wunder sein, wenn nicht die deutsch-französische Versöhnung und der Beginn der Europäischen Einigung nur fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, der vor 75 Jahren endete?