Über unterschiedliche Narrative zwischen Deutschen und Italienern
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Im deutsch-italienischen Streit um Solidarität und Coronabonds entlarven sich jahrhundertealte Sehnsüchte und Selbstreflexionen. Die Narrative des jeweils anderen stehen einer gemeinsamen europäischen Erzählung im Wege.

Bereits Goethe und nach ihm die deutschen Romantiker wussten viel mit Italien anzufangen. Sie formten ein imaginäres, sakralisiertes und idealisiertes Bild und damit eine sonderbare Liebe zum Mythos Italien, der bis heute den realen Blick auf dieses ureuropäische Land verfremdet. Fast gleichzeitig verfestigte sich aber auch das italienische Bild von Deutschland in nahezu kanonischer Weise. Dort der Süden, die Farbe, die Sehnsucht, die Emotionalität, die Unzuverlässigkeit und die Vergänglichkeit. Hier der Norden, die Kälte, die Härte, die Technik, die Berechnung und die Effizienz. Die Erzählung vom jeweils anderen als Missing Part sagt dabei mehr über das eigene Land (und darüber, wie es sein sollte) aus, als über das andere. Kein Wunder, dass sich Italien und Deutschland so gut zu kennen glauben und doch so gründlich missverstanden wissen.
Ein prägnantes Beispiel dieses Missverständnisses lieferte am 2. April die BILD-Zeitung. Ganzseitig wurde hier die deutsche Italiensehnsucht als Solidaritätsadresse verbrämt: „Ciao, Italia. Wir werden uns bald wiedersehen. Auf einen Espresso, einen Vino rosso. Ob im Urlaub – oder in der Pizzeria.“ Espresso, Wein, Pizza – hier ging es nicht um italienische Realitäten. Hier ging es um deutsche Vorstellungen. Das italienische Urteil über die wahrscheinlich gut gemeinte Nabelschau der BILD-Zeitung war dementsprechend vernichtend. Der Politikwissenschaftler Gian Enrico Rusconi warf der BILD-Zeitung herablassendes Wohlwollen und die Bedienung von Stereotypen vor, die schon seit Jahren überholt und deshalb für viele Italiener besonders kränkend seien. Auch der Corriere delle Sera nannte den Artikel einen scheinheiligen Versuch, sich in Notzeiten aus der politischen und moralischen Verantwortung zu stehlen.
Episoden wie diese sind in Krisenzeiten besonders wirkmächtig. Die ihnen zugrundeliegenden Fremd- und Selbstwahrnehmungen sind aber keinesfalls neu. Tatsächlich war die nicht immer unkomplizierte gegenseitige Wahrnehmung schon Baustein nationaler Identitäten, als beide Staaten im neunzehnten Jahrhunderts gemeinsam das Licht der Welt erblickten. So schrieb Ippolito Nievo, der große Dichter der italienischen Unabhängigkeitskriege, in seinem Risorgimento-Roman, Le confessioni d’un Italiano (1858), dass seine Heimat zwar die Anmut eines Sommerabends besäße, doch ihre Schönheit nur wirklich zu genießen sei, wenn man auch den Reiz eines nebelumwehten Moors zu schätzen wisse. Der menschliche Verstand, so mutmaßte Nievo, huldige den Errungenschaften des Nordens, doch das Herz zöge es nach Süden.
Vielen deutschen Lesern sind derartige Ansichten aus Thomas Manns Der Tod in Venedig (1913) vertraut, oder auch aus Heinrich Bölls einflussreicher Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral (1963), die im Sinne des Autors auch in Italien spielen könnte. In der italienischen Nachkriegsliteratur finden sich ähnlich idealisierte Blickweisen und Versuche, dem eigenen Volk den Spiegel vorzuhalten. Der Satiriker Ennio Flaiano – im Ausland vor allem als Drehbuchautor Federico Fellinis bekannt ist – vermerkte 1958 nach einer Reise in die Niederlande, dass Italien im Norden bestenfalls mit Textilien und Schlagsahne in Verbindung gebracht werde. Der Schriftsteller Guido Morselli schuf in mehreren Romanen deutschsprachige Ich-Erzähler, um seinem (selbst-)kritischen Blick auf die angeblich unbelehrbare „Kinderrepublik“ (bambino-crazia) Italien gebührend Ausdruck zu verleihen.
Dieses subtile Spiel der Vor- und Selbsturteile hat dankbare Abnehmer. Ein Politik-Thriller aus Turin hätte es beim deutschen Publikum wahrscheinlich genauso schwer, wie eine Koch- und Liebesgeschichte aus Köln beim italienischen. In Italien schaut man Das Leben der Anderen (2006) oder die Heimat-Trilogie (1981-2006) von Edgar Reitz, liest Robert Menasses Die Hauptstadt (2017) und ist erschüttert von Jenny Erpenbecks düsteren Flüchtlingsroman Gehen, ging, gegangen (2018). Die Erwartungen des deutschen Durchschnittslesers hingegen speisen sich aus Andrea Camilleris Commissario Montalbano-Reihe, aber auch aus den Werken der in Italien weitgehend unbekannten Amerikanerin Donna Leon. Elena Ferrantes großartige Neapolitanische Saga war in Deutschland ebenso ein Bestseller wie Roberto Savianos verstörende Camorra-Schilderung. Beide erzählen aber letztendlich auch von Süden, Familie und Mafia, typisch Italien eben.
Wie schon in der Finanzkrise ist auch in der Coronakrise die gegenseitige Wahrnehmung als Projektionsfläche und Beschreibung des fehlenden Eigenen eher hinderlich als hilfreich. Niemand sollte den Deutschen Pizza, Passione und Prosecco streitig machen. Und keiner sollte den Italienern die Faszination für disciplina tedesca ausreden. Aber es sollte dies- und jenseits der Alpen auch keine Illusionen über die politische Wirkmächtigkeit dieser über Jahrhunderte gepflegten Bilder und Vorstellungen geben, gerade wenn sie von Populisten und Scharfmachern politisch nutzbar gemacht werden können. Dass man in Deutschland den Italienern kein Geld anvertraut und dass man in Italien den Deutschen keine Empathie zutraut, ist kein Zufall. Solange sich Deutschland und Italien allzu gerne als Wille und Vorstellung betrachten und nicht mehr gemeinsame und andere Erzählungen zulassen und entwickeln, wird kein geteiltes Narrativ entstehen. Der europäische Zusammenhalt bräuchte es dringend.