In Coronazeiten müssen wir mehr Europa wagen
"The European" traf den Vorstandsvorsitzenden der Versicherungskammer Bayern, Frank Walthes zum Interview. Der Versicherungsexperte, selbst ein überzeugter Europäer erklärte: Europa funktioniert nur, wenn wir mehr Kohäsion wagen. Nur durch die Förderung des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalts kann der Kontinent zusammenwachsen. Dies gilt in Zeiten von Corona umso mehr.

- Die Coronakrise ist eine Herausforderung für die Gesellschaft. Was hat die Versicherungskammer für ihre Kunden getan?
Die Pandemie wird auch an der Versicherungskammer nicht spurlos vorübergehen. Denn wir gehören zu den Top 10 der deutschen Versicherungswirtschaft und sind als Regionalversicherer aufgrund unserer Kundennähe auch immer Teil der Gesellschaft. Dank unserer systematischen Investitionen in den vergangenen Jahren, insbesondere in die Digitalisierung und Automatisation, haben wir uns in dieser herausfordernden Zeit einen Vorsprung erarbeitet, den sowohl unsere Kunden als auch Vertriebspartner positiv goutieren. Trotz des temporären Wegfalls persönlicher Beratungsgespräche in den Sparkassen- und Bankfilialen sowie den Agenturen und Geschäftsstellen während des „shut downs“, hatten und haben unsere Kunden immer die Möglichkeit, ihre Vertriebspartner über virtuelle Kanäle jederzeit zu erreichen. Neben der Beratung via Telefon oder Videokonferenzsystemen können sie ihren Vertrag mittels digitaler Unterschrift sogar direkt abschließen. Unsere Erreichbarkeit und unsere Produktivität sind auch bei einer Homeoffice-Quote von 80 - 90 Prozent auf einem unverändert hohen Niveau. Besonders in der Krise manifestieren sich Vertrauen und Leistungskraft. Auch dort, wo es um den individuellen Versicherungsvertrag jedes einzelnen geht, kommen wir Kunden und Vertriebspartnern in dieser Ausnahmesituation in vielfältiger Weise und über nahezu alle Versicherungssparten entgegen.
- In Ihrem Portfolio findet sich eine Betriebsschließungsversicherung, insbesondere für den Hotel- und Gaststättenbereich. Wie ist Ihr Unternehmen für bzw. gegen eine mögliche zweite Welle gerüstet?
Wir haben im Konzern die erste Welle der Pandemie, gemeinsam mit unseren Mitarbeitenden und Vertriebspartnern, organisatorisch und gesundheitlich gut gemeistert. Ich bin somit zuversichtlich, dass wir auch auf eine mögliche zweite Welle, die hoffentlich nicht so kommt, wie im Extrem-Szenario befürchtet, ebenso gut oder noch besser vorbereitet sind und sie bewältigen werden. Dennoch, die Welt dreht sich weiter und so müssen wir auch unsere Maßnahmen entsprechend möglicher neuer Einflussfaktoren anpassen.
Wenn Sie danach fragen, wie wir unsere Leistungspflicht gegenüber unseren Kunden aus dem Hotel- und Gaststättenbereich bei einer weiteren, durch den Staat veranlassten Gesamtschließung einer Branche sehen, kann ich Ihnen nur sagen, dass sich am Bedingungswerk nichts geändert hat. Eine behördlich angeordnete Branchenschließung stellt kein versicherbares Ereignis unter den heutigen Gegebenheiten dar. Doch auch bei der teils sehr emotionalen Diskussion in den vergangenen Wochen kann ich für unser Haus betonen, dass wir von Beginn an im Rahmen einer gemeinsamen Initiative nach einer tragfähigen Lösung gesucht und diese mit dem Bayerischen Wirtschaftsministerium, Dehoga und wesentlichen Teilen der bayerischen Versicherungswirtschaft auch gefunden haben.
- Unsere Welt vernetzt sich immer weiter. Welche Rolle spielt das Thema Digitalisierung bei den großen Versicherern?
Für die Versicherungskammer spielt die Digitalisierung schon seit geraumer Zeit eine strategisch bedeutende Rolle. Sie hilft uns enorm, Prozesse im Sinne und zum Nutzen unserer Kunden zu vereinfachen und dabei wertvolle Zeit für andere Kundenanliegen entlang unserer „Kundenreise“ zu gewinnen. Die aktuelle Situation zeigt nicht nur für Versicherer wie wichtig das Thema Digitalisierung und damit verbunden die Herausforderungen an die Transformation in der gesamten Gesellschaft sind. Denken Sie beispielsweise nur an die Schulen mit deren aktuellem virtuellen Unterrichtsformat. Und damit meine ich nicht nur den notwendigen Netzausbau in ländlichen Regionen oder die notwendige Hardware; wir müssen gleichermaßen in das Know-how und das Verständnis für den richtigen Umgang und Einsatz der vielfältigen Möglichkeiten investieren. Wir brauchen insgesamt eine transformative Innovations- und Investitionsagenda, um die technologische Modernisierung in Wirtschaft und Gesellschaft voran zu treiben und damit die Wachstumsgrundlagen für die Zukunft zu schaffen. Das muss unser aller gemeinsames Ziel sein.
- Wissensmanagement und neue Lernformen sind ein zentrales Zukunftsthema der Digitalisierung. Sie unterstützen Projekte zur Erweiterung der digitalen Medienkompetenzen in berufsbegleitender Qualifizierung. Warum stehen solche Projekte auf Ihrer Agenda?
Neue, oft agile Formen der Zusammenarbeit und stetig hinzu kommende digitale Lösungen verlangen eine Veränderung langjährig erlernter und gelebter Verhaltensmuster. Beschäftigte sollen mitgestalten, neue Lösungsansätze definieren und digitale Kompetenzen zeigen. Deshalb haben wir uns als Unternehmenspartner dem Projekt MEDEA angeschlossen. MEDEA steht für „Erfahrungsgeleiteter arbeitsintegrierter Erwerb von digitalen Medienkompetenzen in der berufsbegleitenden Qualifizierung“ und ist ein Förderprojekt des Programms „Digitale Medien in der beruflichen Bildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und dem Europäischen Sozialfonds. Die Beteiligten bestimmen selbst, welche Lernfelder sie zum Ausbau digitaler Kompetenzen priorisieren und umsetzen.
- Das Home-Office hat sich in der Coronakrise als eine Alternative zum Büro entwickelt, ist das auch eine Perspektive für die Versicherungskammer? Bundesminister Heil plant ein Recht auf Home-Office. Geht das überhaupt, zählt nicht die Nähe zum Klienten?
Wenn auch nicht gesetzlich verankert, die Möglichkeit auf Home-Office hatten unsere Mitarbeitenden immer dort, wo es möglich war, schon vor Corona. Wenn es aber um Vertrauensbildung und Bindung oder um Erfahrungs- und Meinungsaustausch geht, ist der persönliche Kontakt auch künftig nicht allein durch digitale Kommunikationsmedien zu ersetzen. Das gilt für den Kundenkontakt ebenso wie für das Verhältnis von Führungskräften zu ihren Mitarbeitenden. Dennoch, wir werden im Konzern Versicherungskammer kaum mehr zu alten Zeiten zurückkehren. Zum einen sehen wir, dass die Arbeit in großen Teilen aus dem Home-Office mit ebenso hoher Qualität erledigt wird und die Mitarbeiterzufriedenheit einen deutlichen Anstieg verzeichnet; zum anderen ist es für viele Mitarbeitende auch eine Erleichterung, wenn sie nicht mehr so häufig teils lange Arbeitswege auf sich nehmen müssen. Ich denke, wir werden in Zukunft mindestens ein Hybridmodell etablieren, bei dem die Interessen des Unternehmens ebenso wie die der Mitarbeitenden berücksichtigt werden können. Wir werden zunehmend ein noch kundenzentrierteres, effizienteres und effektiveres Unternehmen sein. Die aktuelle Situation hilft uns, die strategische und digitale Transformation unseres Hauses zügiger voran zu bringen.
- Wie sieht die Versicherungsbranche der Zukunft aus?
Wir sehen, dass die Pandemie die Entwicklung vom reinen Offline-Kunden zum hybriden Kunden weiter beschleunigt. Wir agieren auch in Zukunft mehrhändig und setzen nicht nur auf digitale Kanäle, sondern stärken auch unseren personell-digitalen Vertrieb. Wir gehen aber noch einen Schritt weiter, indem wir den Ausbau von Ökosystemen beschleunigen, da unsere Kunden verstärkt ganzheitliche Lösungen im Kontext ihrer Lebenssituation nachfragen. Der Konzern Versicherungskammer ist hier bereits auf einem guten Weg. Mit „Uptodate“, unserem eigenen Start-Up, bieten wir heute schon eine Vielzahl von Angeboten rund um das Leben in Haus und Wohnen, zwischenzeitlich mit besonderem Fokus auf die Gesundheit, an. HomeCare und HealthCare sind hier die Stichworte.
- Lassen Sie uns anlässlich der aktuellen Situation auch noch kurz über die Versicherungsbranche hinaus blicken, denn die Gesellschaft lebt ja immer vom Miteinander. Wie lässt sich ihrer Meinung nach, diese unter dem Begriff der Kohäsion gedacht, in der Realität umsetzen; wie müssen wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt gedacht werden?
Spätestens seit den Verträgen von Maastricht dominiert das Postulat des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts alle gemeinschaftlichen Politikbereiche der Europäischen Union. Das Ziel ist die konsequente Schließung wirtschaftlicher, sozialer und technologischer Lücken zwischen den EU-Staaten.
Die kritischen Erfolgsfaktoren dazu lauten heute: demografische Entwicklung, Wertewandel, sinkende Erwerbstätigenzahlen, ein deutlich wachsender Anteil erwerbstätiger Frauen und mehr Menschen mit Migrationshintergrund. Der erfolgreiche Umgang mit diesen Faktoren für Unternehmen innerhalb Europas hängt auch weiterhin davon ab, wie sie sich in verändernden, globalen Wirtschaftsströmen und im Wettbewerb um qualifiziertes Personal dauerhaft behaupten können. Gerade angesichts der aktuell herrschenden Unsicherheit sind offenes Denken und gegenseitiger Respekt für eine gemeinschaftliche Grundhaltung wichtiger denn je. Diversity Management ist eine Möglichkeit und hilft, auf diese Veränderungen in der Gesellschaft zu reagieren und lässt sich, gut durchdacht, als Erfolgsfaktor in einer Unternehmenskultur abbilden. Ein respektvolles Miteinander trägt zu einem besseren Kundenverständnis bei, fördert den Zusammenhalt im Unternehmen und in der Gesellschaft und ist somit unabdingbar.
- Europa ist nach der Coronakrise noch weiter auseinandergedriftet. Statt europäischer Einheit hat der Nationalstaat wieder die Führung bei der Bekämpfung der Pandemie übernommen. Taugt Europa zu Konfliktlösungen?
Die Corona-Krise ist eine globale Herausforderung. Sie kann durch eine enge europäische und internationale Zusammenarbeit besser und effektiver bewältigt werden als durch nationale Alleingänge oder durch aufkeimenden Protektionismus. Der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt Europas nutzt allen. Das betrifft eine Vielzahl von Herausforderungen, nicht nur den Umgang mit dem Coronavirus. Ich denke dabei an die Stärkung der digitalen Kompetenzen, den Klimawandel, den Gesundheitssektor und nicht zu vergessen die Sicherheitsarchitektur von EU und NATO, in der Europa seine Zusammenarbeit vertiefen muss. Noch haben wir in Pandemiefragen keinen europäischen Bundesstaat mit klaren zentralen Zuständigkeiten. Vielmehr sehen wir hier ein föderales, subsidiäres Labor eines althergebrachten Europas der Vaterländer. In der Tat, wir müssen noch viel für die politische Union Europas tun!
- Ihre Vision ist die eines geeinten Europas. Doch nicht erst nach Corona wachsen die Schulden vieler Mitgliedsstaaten ins Unermessliche. Eurobonds sollen hier helfen? Ist das der richtige Weg?
Wir müssen einen Weg finden, Europa durch Solidarität zusammen zu halten, indem die EU direkte Hilfen leistet. Die jüngsten Vorschläge von Macron und Merkel zur wirtschaftlichen Erholung Europas durch einem Wiederaufbaufonds sowie die Initiativen der Kommissionspräsidentin von der Leyen sind hier wegweisend.
- Die Kohäsions- und Strukturpolitik ist eine der zentralen Politikbereiche der Europäischen Union. Kohäsion steht in der Politik für den Zusammenhalt zwischen einzelnen Staaten und Regionen. Wie könnte diese Ihrer Meinung nach verbessert werden?
Mit der Förderung des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalts sollen sukzessive die bestehenden Disparitäten zwischen den Ländern der EU vermieden werden. Entstandene Ungleichgewichte im Zuge der Integrationsschritte vom Binnenmarkt über die EU-Erweiterung bis hin zur Wirtschafts- und Währungsunion gilt es zu beseitigen. Die europäische Kohäsionspolitik verfügt über eine Reihe von strukturpolitischen Maßnahmen, die dem Grunde nach alle als Hilfe zur Selbsthilfe gedacht sind und gerade keine Transfer-Union begründen. Aktuell schaue ich mit Besorgnis auf diese Europäische Wertegemeinschaft. Ich sehe drei zentrale Bereiche, deren Stabilität höchste Aufmerksamkeit erfordern: Innere Sicherheit, Soziales und Finanzen. Es muss uns in der Einheit dieser drei europäischen Themen gelingen, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete zu verringern und dabei auf eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung der einzelnen Teile und des Ganzen zu achten. Der Abstand zwischen strukturschwachen und stärkeren Ländern und Regionen darf sich nicht weiter vergrößern, sonst manifestiert sich ein weiteres Mal ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten.
Fragen: Stefan Groß