Baerbocks werteorientierte Außenpolitik endet im Kaukasus
Artikel vom
In Bergkarabach spielt sich eine menschliche Katastrophe ab. Doch in diesem Fall scheuen sich Deutschland und die EU Konsequenzen gegen den offensichtlichen Aggressor auszusprechen: Aserbeidschan wurde schließlich erst im vergangenen Jahr als neuer Gaslieferant ausführlich gefeiert.Von Oliver Stock / The European

Die Massenflucht der Armenier aus Bergkarabach führt der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock die Grenze ihrer wertorientierten Außenpolitik vor Augen. Seit dem Einmarsch Aserbeidschans in die Region sind zehntausende Armenier auf der Flucht. Deutschland und die EU müsste die durch Aserbeidschan ausgelöste Katastrophe an sich verurteilen, den Aggressor klar benennen und ihn mit Sanktionen belegen. So entspräche es einem wertebasierten Ansatz. Doch tatsächlich tut sich die EU schwer. Grund sind langfristige Energielieferverträge, die die EU-Kommission erst im vergangenen Jahr mit den Diktatoren von Baku, wie die Hauptstadt Aserbeidschans heißt, geschlossen hat. Weil vom Ukraine-Aggressor Russland letztlich aus moralischen Gründen kein Gas und Öl mehr gekauft werden sollte, schwenkten Deutschland und die EU im vergangenen Jahr um und schlossen Verträge mit dem aserbaidschanischen Staatschef Ilham Alijew, um Gaslieferungen von damals 8 Milliarden Kubikmeter jährlich auf über 20 Milliarden Kubikmeter zu erhöhen. Die EU wende sich zuverlässigeren und vertrauenswürdigeren Lieferanten zu. „Aserbaidschan gehört dazu", sagte Kommissionschefin Ursula von der Leyen vor gut einem Jahr. Die menschliche Katastrophe, die Alijew jetzt ausgelöst hat, spricht diesen Worten Hohn.
Der Konflikt um das Gebiet Bergkarabach, eine Gebirgsregion, die nicht einmal doppelt so groß ist wie Luxemburg, reicht Jahrhunderte zurück und eskalierte im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion zu einem Krieg. Ein Waffenstillstandsabkommen beendete 1994 zwar die Kampfhandlungen, konnte jedoch bis heute nicht in ein Friedensabkommen münden. Bergkarabach gehört in der Diplomatensprache zu den sogenannten „eingefrorenen“ Konflikten: Die 1991 erklärte Unabhängigkeit des überwiegend armenisch besiedelten Bergkarabach von Aserbaidschan wurde international nie anerkannt, militärisch jedoch durch Armenien abgesichert. Im September 2020 begann Baku mit einer neuen Militäroffensive, um die besetzten Gebiete zurückzuerobern. Das am 9. November 2020 mit Vermittlung der Russischen Föderation geschlossene Waffenstillstandsabkommen legte unter anderem veränderte Grenzziehungen fest.
Doch die Waffenruhe war brüchig, immer wieder kam es zu einem Aufflammen des Konflikts. Inzwischen ist Russland durch den Ukraine-Krieg geschwächt und in der Region weniger aktiv. Aserbeidschan dagegen ist nicht zuletzt durch Geld für Energielieferungen in die EU gestärkt, was den Konflikt von Neuem heraufbeschwor und jetzt zum Angriff Aserbeidschans geführt hat. Für das autoritäre aserbaidschanische Regime sind die Aufrechterhaltung äußerer Bedrohungen, vor denen nur die bestehende Regierung schützen könne, sowie die verbale und auch militärische Stärkedemonstration wichtige Instrumente, um die Unterstützung der Bevölkerung und damit die eigene politische Macht zu sichern, heißt es etwa von der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg. Nach der Offensive setzte eine Massenflucht der armenischen Bevölkerung Bergkarabachs nach Armenien ein. Ferner hat Armeniens Präsident ein Dekret unterzeichnet, demgemäß er sich mit der Auflösung der selbsterklärten Region Bergkarabach zum 1. Januar .2024 bereit erklärt.
Die Gaslieferungen stellen bislang weder Baerbock noch von der Leyen in Frage. Die deutsche Außenministerin, die sonst mit Sanktionsdrohungen schnell bei der Hand ist, beschränkt sich bislang darauf, die menschliche Tragödie in der Region anzuprangern. „Kinder, Frauen und Männer in Bergkarabach müssen ohne Angst in Frieden und Würde in ihren Häusern und ihrer Heimat bleiben können. Tausende fürchten aber so sehr um Leib und Leben, dass sie für sich und ihre Familien keinen anderen Ausweg sehen, als sich auf Weg nach Armenien zu machen – oft nur mit dem Allernötigsten und in völlig überfüllten Autos.“ Internationale Beobachter würden schon mal helfen, meint Baerbock und bezeichnet es als „Vertrauensbeweis“, wenn Aserbaidschan sie zuließe.
Auch die EU gibt sich schmallippig. In einer Fragerunde des Parlaments äußerte sich der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell und bezeichnete die Besetzungen von armenischen Gebieten als „absolut inakzeptabel". Konsequenzen kündigte er allerdings auch nicht an. Stattdessen verteidigte er die Nähe zu Aserbaidschan. Das mit der EU geschlossene Energieabkommen gehe „nicht zulasten der Menschenrechte oder anderer demokratischer Fragen", sagte er.