Achtung, die Transferunion droht!
In Brüssel wird derzeit über eine Reform des bestehenden Stabilitäts- und Wachstumspaktes diskutiert – und damit über die als Maastricht-Kriterien bekannten Anforderungen zur Wahrung der Preis- und Haushaltsstabilität in den Mitgliedsstaaten. Von Engin Eroglu

Die zentralen Kriterien sind das Verbot von mehr als 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) an jährlicher Nettoneuverschuldung und ein Maximum der Staatsschulden von 60 Prozent des jährlichen BIP. Wer über den 60 Prozent liegt, ist verpflichtet, 1/20 den über der Höchstgrenze liegenden Teil der Quote abzubauen.
Nur: Die 60 Prozent wurden von einigen Mitgliedstaaten von Anfang an überschritten.
Statt 60 Prozent Obergrenze können wir Verschuldungen deutlich über 100 Prozent beobachten wie zum Beispiel in Frankreich, oder sogar jenseits der 150 Prozent wie etwa in Italien. Die Covid-bedingte Aussetzung der Neuverschuldungsgrenze tat also ihr Übriges.
Ein nachhaltiges Reduzieren scheint unwahrscheinlich oder sogar in der Praxis unmöglich.
Dem hat sich nun die Kommission angekommen, und wird ihren eigentlichen Reformvorschlag Anfang kommenden Jahres vorstellen. Aber schon vorab – am 9. November – machte sie erste Überlegungen publik:
Sie fordert „einfachere fiskalische Regeln“ und eine „bessere Umsetzung“, aber insbesondere mit der Kommission ausverhandelte individuelle Schuldenpläne der überschuldeten Staaten. Die geplanten bilateral verhandelten Schuldenabbaupläne öffnen Hinterzimmerdeals durch „flexible und individuelle“ Schuldenaufnahme Tür und Tor, und würden zwangsläufig intransparenter und komplexer.
Gerade bei hochverschuldeten Ländern wie Italien und Griechenland sind zu lasche Regelungen zu befürchten. Die Nettozahler würden de facto über ex- und implizite Garantien, unter anderem über die EZB mit dem sogenannten „TPI-Programm“, sitzenbleiben.
Die geplante faktische Aufweichung der Maastricht-Kriterien spaltet die Mitgliedsländer daher in zwei Fraktionen: Die eine Seite, die massiv von dem Kommissionsvorschlag profitiert, indem sie die Verschuldung weiter betreiben kann und mehr Flexibilität erhält. Das ist in erster Linie der hochverschuldete Süden der EU, inklusive Frankreichs
Auf der anderen Seite stehen die potentiell noch größeren Nettozahler – unter anderem Deutschland als größte Wirtschaftsmacht der Europäischen Union.
Zusammengefasst befindet sich die EU auf einem verhängnisvollen Weg.
Der Corona-Wiederaufbaufonds mit der sich daraus ergebenden gemeinsamen Verschuldung und die Aufweichung der Maastricht-Kriterien beenden de facto das No-Bailout-Prinzip. Hinzu kommt die seit Jahren sehr fragliche Politik der EZB, die durch Nullzins, Quantitativer Lockerung und durch Programme wie das PSPP und das TPI de facto monetäre Staatsfinanzierung betreibt.
Damit sind zwei Tabus, die beim Einführung des Stabilitäts- und Wirtschaftspakt aus guten Gründen als unverzichtbar angesehen wurden, de facto ausgeräumt. Daraus ergibt sich der fatale Anreiz, dass sich jedes Mitgliedsland langfristig auf Kosten der Anderen verschulden kann. Für ein freundschaftliches Miteinander und finanzielle Solidität sind das sehr schlechte Vorzeichen.
Bleibt zu hoffen, dass die Kommission im ersten Quartal 2023 einen soliden Plan im Sinne der europäischen Idee vorlegen kann. Das Zurück zum No-Bailout-Prinzip des Maastricht-Vertrags muss das Ziel sein. Nicht nur aus einer deutschen Warte – auch aus einer objektiven Betrachtung – setzt die Eigenverantwortung die richtigen Anreize für Stabilität und Generationengerechtigkeit.