Soll die Türkei der EU beitreten oder nicht? Darüber wird schon seit Jahren in Brüssel gestritten. Nicht nur die Österreicher unter Sebastian Kurz halten einen Beitritt von Erdoğan & Co für strittig und warnen regelrecht davor. Papa-Emeritus, Joseph Ratzinger, musste seinerzeit viel Kritik einstecken, als er einst für einen Beitritt der Osmanen warb. Als Kardinal hatte er sich gegen einen türkischen EU-Beitritt gewandt und damit für politische Verärgerung in Ankara gesorgt. Doch als Papst schwenkte er um. Auch ein anderer Landsmann des Pontifex, der EVP-Vorsitzende Manfred Weber, der eigentlich Kommissionspräsident werden sollte und in letzter Minute von Angela Merkel und dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron durch Ursula von der Leyen ersetzt wurde, hält den Beitritt der Türkei in die Europäische Union für eine „Illusion“, wie er bei einem Besuch in Ankara betont. Doch Ursula von der Leyen, die derzeit in der Kritik steht, nicht genügend Impfstoff für Europa geordert zu haben, und die damit auch für die Knappheit der Impfstoffe in Deutschland indirekt mitverantwortlich ist, wollte einen möglichen Ausbau der Beziehungen zur Türkei bei ihrem Besuch abstecken.
Bei einem Treffen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen zeigte sich, dass der Monarch dann doch nicht so ganz aufgeklärt ist wie man es von einem Staatslenker erwarten kann. Nach außen gibt sich Erdoğan immer wieder als moderater Staatsmann, der reformwillig sein Land in eine demokratische Zukunft führen will, doch nach innen ist er der Hardliner, der allen seinen Kritikern nach wie vor die Stimme verbietet, sie vom berüchtigten Geheimdienst überwachen oder in den Gefängnissen verrotten lässt. Von der Emanzipation der Frau ist man in seinem Land so weit entfernt, wie der entfernteste Planet von der Erde.
Die Sitzordnung bei dem Treffen des türkischen Präsidenten und den EU-Spitzen in Ankara hatte dann auch in den Sozialen Medien Zündstoff geliefert und für mächtig Irritationen und Kritik am türkischen Sultan gesorgt. Während für EU-Ratspräsident Charles Michel ein großer Stuhl neben dem türkischen Staatschef reserviert war, bekam EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei dem Gespräch am Dienstag einen Platz auf einem Sofa in einiger Entfernung zugewiesen. Dort saß sie dem türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu gegenüber, der ebenfalls an dem Gespräch teilnahm. Die neue Sitzordnung beim Sultan von Ankara sorgte auch für Aufsehen, weil von der Leyens Vorgänger, der allseits beliebte und kommunikative EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, bei einem Treffen mit Erdoğan immerhin auf Augenhöhe mit dem Chef der Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) sitzen durfte. Ein möglicher Grund für Erdoğans Reserviertheit gegenüber der Kommissionspräsidentin dürfte sein, dass diese das Treffen genutzt hatte, um mit ihm eine lange und sehr offene Diskussion über die Rechte der Frauen und den Rückzug der Türkei aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen und Kinder vor Gewalt zu führen. Derartige Themen stehen jedoch nicht auf der Agenda des Regenten, dem Kritiker vorwerfen, die Türkei in einen “Gottesstaat” zu verwandeln. Mit der Umwandlung der Hagia Sophia zur Moschee hatte Erdoğan international Kritik ausgelöst. Doch das hat den religiösen Fanatiker, der nach wie vor die Menschenrechte in seinem Land nicht achtet, keineswegs gestört. Ende 2020 ordnete er an, ein weiteres Gotteshaus aus byzantinischer Zeit, die Chora-Kirche, in eine Moschee umzuwandeln.
Cem Özdemir – Erdoğan ist ein autoritärer Unterdrücker & Macho wie #Putin
Cem Özdemir von den Grünen hatte das Treffen mit Empörung kritisiert. Der ehemalige Bundesvorsitzende schriebt auf Twitter: „Solche Zeichen setzen autoritäre Unterdrücker & Machos wie #Putin, # Erdoğan & Co bewusst. (…) Kann man sich gefallen lassen, muss man nicht. Respekt bekommt man so jedenfalls nicht bei den Herren!“ Gleichwohl Michel als Präsident des Europäischen Rates in der protokollarischen Rangordnung über der EU-Kommissionspräsidentin steht, bleibt es eine Unterdrückungsgeste Erdoğans gegenüber einer Frau, die nicht zu rechtfertigen sei.
Hintergrund
Das Treffen des türkischen Staatspräsidenten mit führenden Vertretern der EU dienst dazu, auszuloten, wie es um die Beziehungen mit dem Land steht. Bei einem EU-Gipfel in der vergangenen Woche hatten sich die EU-Staats- und Regierungschefs darauf verständigt, die Beziehungen zur Türkei schrittweise wieder auszubauen. Durch eine Annäherung an Ankara hofft man, die Eskalation weiterer militärischer Konflikte in der Schwarzmeerregion zu verhindern sowie das im Anschluss an die Flüchtlingswelle 2015 geschlossene Flüchtlingsabkommen mit der Türkei weiter aufrecht zu halten. Aus Sicht der EU-Administratoren kann Erdoğan noch längst nicht den Beweis erbringen, dass er im Streit mit Griechenland und Zypern um Gasbohrungen tatsächlich einlenken will. Neuerliche Sanktionen der EU gegen die Türkei sind noch keineswegs vom Tisch. Und ob Ursula von der Leyen nochmals nach Ankara reist, ist zu bezweifeln.