Wäre George Antonius am Leben, könnte er sich kaum retten vor Interview-Anfragen über das „arabische Erwachen“, denn er erfand diesen Begriff. Unter dem Titel „The Arab Awakening“ erschien 1938 seine Geschichte des Nahen Ostens. Antonius – halb Ägypter, halb Libanese – prägte mit seinem Narrativ Politiker, Wissenschaftler und Journalisten. Demnach schlummerte die arabische Identität Jahrhunderte dahin und wurde erst durch westliche Kultur und Bildung aufgeweckt. Aber die Kolonialmächte ließen die Araber fallen, obwohl sie sie zum Kampf für Unabhängigkeit ermutigt hatten. Die Schuld an der verhinderten arabischen Nation und der folgenden Misere traf die Europäer und ihren Verbündeten Israel. Arabische Intellektuelle machten sich dieses Lamento ebenso zu eigen wie ihre Herrscher.
Stell dir vor, es ist Revolution und alle verschlafen
Im Arabischen Frühling jedenfalls weckten die Europäer niemanden – sie haben ihn erst einmal verschlafen. Ganz zu schweigen von den Israelis, die bis heute keine Haltung zum Umbruch in der Nachbarschaft entwickelten. Dass Israel so passiv blieb, kritisierten viele – “auch Christian Boehme in dieser Debatte(Link)”:http://www.theeuropean.de/christian-boehme/7653-israel-und-der-arabische-fruehling. Nun gut: Von Netanjahu war nichts Originelles zu erwarten. Aber wie sollte er handeln? Es wäre verlogen gewesen, den „demokratischen Aufbruch“ lautstark zu begrüßen – und hätte der Sache nicht gedient. Was die Israelis nun tun können? Ihre Regierung abwählen, den Siedlungsbau in den palästinensischen Gebieten stoppen und sich um eigene Belange kümmern. Israels Verhandlungspositionen werden nicht komfortabler mit der Zeit. Denn die westlichen Verbündeten haben längst den Taschenrechner in der Hand und fragen sich: Was kostet uns die Unterstützung einer rechtsgerichteten Regierung? Charme-Offensiven für die Araber sind jetzt nicht gefragt – da liegt Netanjahu richtig. In Ägypten wissen alle Parteien: Beschwichtigende Worte zu Israel nützen im Wahlkampf ebenso viel wie die Forderung, Steuern zu verdoppeln oder das Bohnenessen zu verbieten. Wer nicht als Agent des Auslandes diskreditiert werden will, hält sich erst einmal zurück – aus Erfahrung.
Doppeltes Spiel
Denn die Diktatoren spielten uns und ihre Untertanen gegeneinander aus: Uns erzählten sie, Islamisten seien am Stillstand schuld, drüben musste der bigotte Westen den Sündenbock geben. Seit die Araber 2011 abermals erwacht sind, hat es sich hoffentlich ausgespielt. Auch wenn Islamisten-Demos manchen in Europa unbehaglich stimmen, ist die Sympathie noch nicht verbraucht: Das wird aber nichts daran ändern, dass die Nationen im Umbruch ganz auf sich allein gestellt sind. Ein paar Hundert Millionen für Staatskredite aus Europa hin oder her. In Tunesien und Ägypten soll es bald Wahlen geben. Dabei ist nicht entscheidend, wer die Parlamentsmehrheiten stellt, sondern dass ein System der Rechenschaft entsteht. Mubarak, Ben Ali – auch Libyens Gaddafi – herrschten nämlich mit einem Taschenspielertrick. Sie ließen ihre Schuld am Elend ganz einfach verschwinden und beförderten Verschwörungsmythen über die Machenschaften von CIA, Mossad, Freimaurern, Juden und Bahai. Wenn die Generation Facebook etwas leisten kann, dann der Versuchung solcher, alles erklärender Theorien zu widerstehen und ihre Regierungen als Gradmesser eigener politischer Reife zu betrachten. Bei den Tunesiern stand diese Reife zuletzt in keinem Verhältnis mehr zur Art, wie sie regiert wurden. Deshalb begann dort – und nirgendwo anders – das arabische Erwachen.