Bundespräsident Joachim Gauck hat völlig recht: „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.“ Aber was ist, wenn wir die Frage einmal umdrehen? Was passiert mit Auschwitz, wenn es keine deutsche Identität mehr gibt?
Werden die Vereinigten Staaten von Europa in der Lage sein, das Verdrängen von Auschwitz zu verhindern? Möglicherweise wird es dann ja nicht einmal mehr ein Verdrängungsprozess sein, sondern schlichtes Vergessen. Wo keine Erinnerungskultur, da auch keine Erinnerung.
Klar ist auch, wenn Gauck von „beschämend“ in Hinblick auf den bundesrepublikanischen Umgang mit den Holocaust-Opfern spricht, dass er dann falsch liegt, denn dafür müsste es ja auf der gegenüberliegenden Seite einen „angemessenen“ Umgang geben. Den gibt es aber allenfalls im Sinne von „weniger beschämend“. Denn wie sollte man, mal davon abgesehen, dass es solche Geschäfte mit der moralischen Verantwortung nicht geben kann, das Ungeheuerliche jemals angemessen mit Gutem aufwiegen können?
Gaucks Rede ist eine Zäsur. Denn sie unterscheidet sich von den Reden seiner Vorgänger zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz in einem besonderen Detail: in der direkten Ansprache an alle Deutschen. Wenn Gauck feststellt, „die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben. Er gehört zu Geschichte dieses Landes“, ist das natürlich Geschichtsunterricht für alle Einwanderer. Insbesondere die mit muslimischem Hintergrund. Er knüpft hier verbal an die Aussage der Bundeskanzlerin an: „Der Islam gehört zu Deutschland.“ Und hier wäre es ein weiteres Zeichen an so einem Tag, wenn die Adressaten dieser Rede signalisieren würden, die Botschaft erhalten zu haben und anzunehmen.
Wir müssen auch Israel mitdenken
Wenn wir in Deutschland wieder rufen: „Wir sind das Volk!“, übernehmen wir automatisch Verantwortung, unseren Teil dazu beizutragen, dass nie vergessen werden darf, was unvergesslich ist.
Ich würde sogar noch weiter gehen: So lange wir eine Debatte führen, wie unser Deutschland in Zukunft aussehen könnte, so lange wir also an diesem Modell des Nationalstaates festhalten, muss Auschwitz Teil dieses Findungsprozesses sein. Auschwitz hat ein unwiderrufliches Mitspracherecht. Also muss es auch immer mindestens einen geben, der seine Stimme für es zur Verfügung stellt. Wenn wir aber nun Auschwitz mitdenken, verpflichten wir uns auch, Israel mitzudenken. Denn das besondere Interesse der Deutschen an diesem Land, oft genug auch verbunden mit einer besonders scharfen Kritik an der Politik des Landes, liegt hier verankert.
Mehr noch: Ganz gleich, was die auslösenden Faktoren sein mögen, wenn Israel, wenn Juden in Israel um ihr Leben fürchten müssen, dann sind wir als Deutsche in der Pflicht. Ohne Wenn und Aber. Mit allen uns zur Verfügung stehenden diplomatischen, aber auch militärischen Mitteln. Vielleicht ist unsere Kritik an Israel im Konflikt mit den Palästinensern und den Anrainerstaaten deshalb oft so besonders scharf. Weil er uns auf diese verpflichtende Weise betrifft. Jeder politische Fehler vor Ort, der Konsequenzen mit sich zieht, hält auch für uns möglicherweise Konsequenzen bereit.
Nie wieder Krieg heißt für uns auch nie wieder Auschwitz. Für Deutschland. So wird die deutsche Freiheit möglicherweise nicht am Hindukusch verteidigt, aber auf jeden Fall in Tel Aviv, in Haifa und Jerusalem. Und sicher ist Schuld nicht vererbbar, aber die Betonung der Unschuld befreit nicht von der Pflicht, sich zu erinnern. Wer Deutschland will, bekommt es nicht ohne Auschwitz.
_”Die besten Zitate aus der Rede von Joachim Gauck”:http://www.theeuropean.de/bildstrecken/Die%20besten%20Zitate%20aus%20der%20Gauck-Rede%20zum%20Tag%20des%20Gedenkens%20an%20die%20Opfer%20des%20Nationalsozialismus/71_